
Neu im Kino: Drei Gesichter
Während die Teheraner Zeitungen davon berichten, dass sich ein junges Mädchen umgebracht hat, weil sie trotz bestandener Aufnahmeprüfung nach dem Willen ihrer Familie nicht studieren darf, erhält die bekannte iranische Schauspielerin Behnaz Jafari über das soziale Netzwerk Instagram eine Videobotschaft eines weiblichen Fans. Handelt es sich dabei um besagtes Mädchen? Gemeinsam mit ihrem Freund, dem der türkischen Sprache mächtigen, offiziell im Iran mit Berufsverbot belegten Regisseur Jafar Panahi, macht sie sich auf die Suche nach dem Mädchen. Die lange, beschwerliche Autofahrt in den türkischsprachigen Norden des Landes bringt überraschende Begegnungen, die Jafari an der Echtheit des Hilferufes zweifeln lassen.
Da sie weder den Namen des Mädchens kennen noch die Adresse ihrer Familie, fahren sie zu einem Friedhof in der Hoffnung, dort Angehörige der offenbar bereits Verstorbenen vorzufinden. In der Tat liegt jemand in einem gerade ausgeschachteten Grab: es ist eine Greisin, die schon 'mal zum Probeliegen hinabgestiegen ist und im Dunkeln eine Lampe anzündet, um Schlangen zu verscheuchen.
Um auf engen Sandpisten der kargen Berglandschaft Gegenverkehr zu vermeiden, haben sich Dorfbewohner einen einfachen, aber cleveren Hupecode ausgedacht. Einer von ihnen entpuppt sich als wahrer Philosoph – und als glühender Anhänger des populären Schauspielers Behrouz Vossoughi. Der von der Ortsgemeinschaft sogleich erkannte und freudig umringte Regisseur soll dem Idol aus vorrevolutionärer Zeit etwas mitbringen – doch der Adressat lebt jetzt im Ausland und darf nicht in seine Heimat zurückkehren. Bei Panahi ist es bekanntlich umgekehrt.
Nachdem sie eine vielköpfige Hochzeitsgesellschaft passiert haben, gelangen die beiden Teheraner Promis in das Bergdorf des Mädchens und erfahren von der aufgebrachten Mutter, dass Marziyeh Rezaei seit drei Tagen verschwunden ist. Nicht nur ihr gewalttätiger Onkel, das ganze Dorf ist dagegen, dass die längst einem Mann versprochene junge Frau in der Hauptstadt ein Studium aufnimmt: „Das Miststück hat unseren Namen in den Dreck gezogen.“
Ihre Cousine weiß ebenfalls nichts Näheres über ihren Verbleib, gibt aber Hinweise auf eine Höhle außerhalb des Ortes, in der die beiden Filmemacher tatsächlich Spuren finden, die darauf hinweisen, dass das Instagram-Video hier gedreht worden ist. Und dann steht Marziyeh an der Seite ihrer Cousine plötzlich vor Behnaz Jafari und bittet sie, ihr bei der Aufnahme auf die Schauspielschule in Teheran zu helfen. Also doch nur eine Inszenierung?
Jafari und Panahi reisen erbost ab, werden aber schon bald durch einen verunglückten Zuchtbullen mitten auf der nur einspurigen Straße an der Weiterfahrt gehindert. Ein Wink Allahs? Jedenfalls kehren sie um und suchen die junge Frau auf, die bei der einst bekannten und nun vom Mullah-Regime verfemten Schauspielerin Shahrzad untergekommen ist. Sie sind bereit, für sie bei ihrer Familie um Zustimmung zum Studium zu bitten...
Auf Filme des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, Berlinale-Gewinner 2014 mit „Taxi Teheran“, muss man sich einlassen. Sie haben eine bezogen auf unsere westliche Sehgewohnheit aus der Zeit gefallene Langsamkeit und weisen ein gewöhnungsbedürftiges, nicht auf den schnellen ersten Blick zugängliches metaphorisches Repertoire auf. „Drei Gesichter“, in Cannes 2018 mit der Palme in der Kategorie Bestes Drehbuch und beim Filmfest Hamburg 2018 mit dem Douglas Sirk Award ausgezeichnet, kommt am 27. Dezember 2018 in die deutschen Lichtspielhäuser, im Revier in das Kino Endstation im Kulturbahnhof Bochum-Langendreer, ins Dortmunder Roxy sowie ins Essener Astra.
Das sehr persönliche, auf geheimen Pfaden ins Ausland geschmuggelte Roadmovie macht uns einmal mehr auf ganz unspektakuläre Weise mit Land und Leuten einer fernen, archaisch-fremden Welt vertraut. Zugleich ist der Hundertminüter ein Blick zurück auf das vorrevolutionäre iranische Kino. Drei Schauspielerinnen verkörpern drei Generationen und stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des iranischen Films: Kobra Saeedi alias Shahrzad, die ihren Beruf nicht mehr ausüben darf und nun als Lyrikerin und Malerin in Isfahan lebt und die eines ihrer Gedichte im Film selbst vorträgt, Behnaz Jafari und, als Neuentdeckung im wahren Wortsinn von der Straße, Marziyeh Rezaei. Apropos Straße: Aus der Komposition dieser drei Geschichten entstand das Bild der schmalen und kurvenreichen Bergpiste, für Jafar Panahi „eine konkrete Metapher für alle Einschränkungen, die Menschen davon abhält, ihren Weg zu gehen und sich weiterzuentwickeln. Diese Straße, die für das Drehbuch benötigt wurde, existiert tatsächlich, auch wenn sie heute nicht mehr genutzt wird.“