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Eine besondere Mutter-Sohn-Beziehung: Marlena (Dorota Kolak) und Tomasz (Łukasz Simlat).

Neu im Kino: Die Verlorenen

Elegische Ostsee-Bilder. Im Gänsemarsch laufen Menschen am frühen Morgen zum Schwimmen, die junge Iza (Marta Nieradkiewicz) voran. Ihre um einiges ältere Freundin Marlena (Dorota Kolak) ziert sich, dreht wieder um. In der nächsten Einstellung sehen wir Letztere lange Flure durchschreiten: Marlena ist Krankenschwester in einer Geburtsklinik.

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Nächster Tag, neuer Versuch. Iza führt Marlena behutsam ins ruhige Wasser. Als diese am Abend nach Hause kommt, liegt ihr um etwa zwei Jahrzehnte jüngerer Partner „Tomek“ Tomasz (Łukasz Simlat) gerade entspannt in der Badewanne. Sie leben dem ersten Eindruck nach glücklich in der Abgeschiedenheit eines einsam am Strand gelegenen Hauses: in einer Teleobjektiv-Einstellung Oleg Mutus scheinen die Ostsee-Wellen bis zur Haustür zu reichen.

Versöhnung am Totenbett Mikolajs (Tomasz Tyndyk): Tomasz umarmt seine Mutter Marlena.

„Wir müssen gar nichts tun“ beharrt Tomek auf der Zugfahrt nach Warschau, um Marlenas seit zwei Jahren in einer medizinischen Einrichtung lebenden, schwerkranken 41-jährigen Sohn Mikolaj (Tomasz Tyndyk) nach Hause zu holen. Seine Schwester Magda (Katarzyna Herman) hat sich offenbar bisher um ihn gekümmert, 32.000 Złoty für die Klinik aufgebracht, nun ist sie an ihre Grenzen gestoßen. Herzflimmern: Nach einer Schrecksekunde geht’s mit dem Krankenwagen zurück an die Küste. Marlena hat sich geschworen: „Ich werde ihn nicht noch einmal verlassen.“

Der Alltag erweist sich freilich schwierig. Obwohl Iza regelmäßig vorbeikommt und Tomek hilft, wirft die aufreibende Pflege Mikolajs rund um die Uhr bald einen Schatten auf Marlenas Beziehung zu Tomek, die – unausgesprochen - eine Besondere sein muss: Sie entzieht sich zunehmend seinem Drängen, er reagiert mit Eifersucht. Selbst als Marlena ihm zum Geburtstag beim Essen im Restaurant eine Ambanduhr schenkt, bleibt das Verhältnis so schwierig, dass Tomek seine Sachen packt und auszieht.

Wenn Iza, die mit ihrem Sohn (Maksymilian Juszczak) offenbar im gleichen Haus wohnt, sie am Krankenbett ablöst, kann Marlena beim Spaziergang ans Meer auf andere Gedanken kommen – und beim Beobachten der Robben am Strand die permanente Geräuschkulisse wenigstens für kurze Zeit vergessen. Mikolajs Tod ist daher eine Erlösung für alle. Tomek erscheint zur Beerdigung, auch Magda, die dem toten Bruder den Bart abrasiert zur letzten Ölung durch den Pfarrer (Mirosław Jękot).

Doch dann fällt Magda plötzlich aus der Rolle, ist anscheinend eifersüchtig auf ihre Mutter – und sogar auf Tomek. Nur Izas Anwesenheit verhindert eine Eskalation. Ihr offenbart sich Marlena später in den diesmal hohen Wellen der aufgewühlten Ostsee: Tomek ist ihr Sohn…

„Die Verlorenen“, der polnische Originaltitel „Głupcy“ bedeutet „Die Törichten“, ist am 4. Juli 2022 beim Int. Filmfestival Karlovy Vary uraufgeführt worden. In seinem vierten Spielfilm setzt der polnische Regisseur einmal mehr auf eine geheimnisvoll-dräuende Stimmung, die durch kühle Räume in fahlem Licht noch verstärkt wird. Das mit einiger Distanz gedrehte und gespielte Inzest-Drama ist auch eine Eifersuchts-Geschichte um die Liebe einer Mutter, die sich nicht verzeihen kann, den einen Sohn gegenüber seinen Geschwistern bevorzugt zu haben.

Dorota Kolak hat dreimal die Übernahme dieser gerade aus polnisch-katholischer Sicht höchst problematischen Mutter-Rolle abgelehnt, bevor sie Tomasz Wasilewski dazu überreden konnte: Sie hatte bereits in seinem Film „United States of Love“ über vier Frauen in der polnischen Provinz nach dem Zerfall des Ostblocks mitgewirkt, der 2016 auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet worden war. Die düstere, auf lange Kameraeinstellungen und sogar Standbilder bauende 106-minütige Inzest-Geschichte startet am 7. September 2023 in den Kinos, bei uns zu sehen in der Essener Galerie Cinema.

Mittwoch, 6. September 2023 | Autor: Pitt Herrmann