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Die professionelle Ruderin Elena Almansi auf dem Canal Grande.

Kino-Tipp: Venedig, wie es niemand kennt

'Moleküle der Erinnerung'

Venedig, wie man es kennt: Eine Stadt voller Touristen, kein Durchkommen auf dem Markusplatz und allen Gassen dorthin. Dann plötzlich private Super-8-Aufnahmen in Schwarz-Weiß und Farbe. Und ein sehr persönlicher Kommentar Andrea Segres aus dem Off, dessen Vater Ulderico, ein Physiker, der über Moleküle geforscht hat, in der Lagunenstadt aufgewachsen ist: Erinnerungen an die Kindheit gepaart mit Reflektionen über sein eher gespaltenes Verhältnis zu Venedig, wo er sich nie richtig zu Hause gefühlt hat.

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Im Februar 2020 ist der in Rom lebende Filmemacher und Regisseur Andrea Segre für zwei Theater- und Filmprojekte über die Wunden der Stadt, Tourismus und Hochwasser, nach Venedig zurückgekehrt. Und blieb zwangsweise bis zum April: Während der Dreharbeiten brachte das Coronavirus alles Leben zum Stillstand und entleerte Straßen und Plätze vor seinen staunenden Augen. So hatte er das auf mehr als 100 kleinen Inseln in einer Lagune an der Adria erbaute Weltkulturerbe zuletzt als kleiner Junge erlebt: Venedig gehörte ganz den Venezianern.

30 Millionen Besucher pro Jahr

Knapp 40.000 Einwohner hat Venedig heute, im Jahr 2019, dem letzten vor Corona, spülte der Massentourismus 30 Millionen Besucher in die Lagunenstadt. 2020 war der Karneval abgesagt worden, Theater und Konzertsäle waren geschlossen, Hotels und Kaffeehäuser verwaist. In dieser grotesken Situation sammelte Andrea Segre zusammen mit seinem Co-Kameramann Matteo Calore visuelle Notizen und Geschichten von Einheimischen wie dem Fischer Gigi, einem ausgewiesenen Kenner der Lagune, und der professionellen Ruderin Elena, die sich beklagt, dass es so wenig normale Jobs für junge Leute gibt, weshalb beinahe alle Klassenkameraden ihre Heimatstadt verlassen haben.

Andrea Segre auf einem Super-8-Film aus den 1960er Jahren auf dem Arm seines Vaters Ulderico.

Muschelsammler bei Niedrigwasser in der Lagune, bei Hochwasser wird’s für die historische, aus der Renaissance und dem Barock stammende Bausubstanz problematisch: Alle Gebäude stehen auf Pfählen. Sinken die Fundamente der Stadt, steigt das Wasser. Andrea Segre wohnt im Haus seines Onkels, wo er ausgiebig Gelegenheit hat, in die Familiengeschichte einzutauchen. Die persönlichen Archive seines Vater Ulderico, in den 1960er Jahren auf Super 8 festgehalten, wechseln sich ab mit Begegnungen mit Bewohnern Venedigs, die von der besonderen Beziehung zwischen der Stadt und dem Wasser erzählen.

70 Minuten Erwartungen und Staunen

Zusammengehalten werden die Bilder durch die Stimme des Regisseurs aus dem Off, die Musik von Teho Teardo und eine über 70 Minuten anhaltende Atmosphäre der Erwartung und des Staunens, die das gesamte Material dieser seltsamen Reise durchdringt. Die Bilder sind bei aller Schönheit unwirklich: die Leere Venedigs hätte ohne den Corona-Lockdown unmöglich auf die Leinwand gebracht werden können.

Andrea Segre im FilmKinoText-Presseheft: „Worte, Gesichter, Bilder, Begegnungen und Erinnerungen: ich konnte nichts davon kontrollieren, ich hatte nur das Gefühl, dass ich nicht gehen konnte, also bin ich geblieben. In einer Zeit, die abgebrochen wurde, in einem Raum, der in der Schwebe gehalten wurde. Wie ein Wunder, real und unwirklich zugleich. Eine Begegnung mit etwas, dem ich nicht entgehen konnte, von dem ich aber nicht wusste, dass ich es treffen würde. Wie Moleküle, die Materie, aus der wir alle bestehen, die wir aber nicht sehen können.“

Sehr private Hommage

„Molecole“, in erster Linie eine sehr private Hommage des Regisseurs an seinen Vater, aber auch die wahrscheinlich bisher ungewöhnlichste Venedig-Dokumentation überhaupt, eröffnete am 1. September 2020 als Vorabendfilm die Filmfestspiele von Venedig, die Deutsche Erstaufführung fand am 6. Mai 2021 beim 36. Dokfest München (online) statt. Zum Kinostart am Donnerstag, 30. Dezember 2021 ist der Film in unserer Region u.a. im Sweetsixteen Dortmund und im Düsseldorfer Bambi zu sehen, ab Sonntag, 2. Januar 2022, auch im Essener Filmstudio Glückauf.

Donnerstag, 30. Dezember 2021 | Autor: Pitt Herrmann