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Romy Vreden als 13-Jährige im Stück

Intimes Pubertäts-Solo in Bochum

'Mädchenschrift'

Ein von Neonröhren begrenztes Geviert in der gekachelten Kaue der Zeche Prinz Regent, die einst Reinhild Hoffmann für kleinere Tanztheater-Produktionen nutzte und die heute als „Theaterrevier“ Probenort und Spielstätte des Jungen Schauspielhauses Bochum ist. Darin vier mit Tüchern verhängte Kästen (Bühne: Lydia Merkel). Aus dem größten „Aquarium“ lugt bald Romy Vreden heraus. In „Mädchenschrift“, dem Solostück der 39-jährigen Dramatikerin, Lyrikerin und Übersetzerin Özlem Özgül Dündar, schlüpft die Rotterdamerin des Jahrgangs 1994 schlüpft in die Rolle eines pubertierenden Mädchens.

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Romy krabbelt mühsam aus dem Kasten heraus, tastet sich vorsichtig in die Mitte vor. Sophia Deimel hat dem Bochumer Ensemblemitglied, das weiterhin in den Niederlanden in einer freien Gruppe mitwirkt, bunte Puschel-Stiefel, Poncho und Mütze verpasst. „Es drückt mich“ bekundet Romy, was angesichts der winterlich anmutenden Kostümierung kein Wunder ist. Gemeint ist freilich ein inneres Zerren und Drücken: Sie spürt die körperlichen Veränderungen, mit denen sie – hier als Zwölfjährige – nicht zurechtkommt, meint, selbst zu einer quadratischen Kiste mutiert zu sein.

Klein und hilflos

Romy fühlt sich klein und hilflos, imaginiert sich als winziges Plastikpartikelchen im Meer und wünscht sich eine Hand, die sich nach ihr streckt, um sie aus den Wellen herauszufischen und aufs sichere Land zu ziehen. Allerdings keine solche Hand, welche sie ein paar Jahre später in der Badeanstalt von hinten betatschen wird: Ihr Körper ist inzwischen gewachsen, ohne sie zu fragen. Und ohne ihr Zutun weckt ihr Körper nun Begehrlichkeiten beim anderen Geschlecht.

Anzügliche Blicke kleben an ihr wie eine schlammige Masse, und es wird nicht bei Blicken bleiben. Romy fühlt sich belästigt, empfindet es als Last, nicht mehr als Kind behütet, sondern als Frau begehrt zu werden. Wann ist frau überhaupt eine Frau? Wenn sie ihre Tage bekommt, also Mutter werden kann? Wenn sie mit 18 Jahren voll geschäftsfähig ist? Dabei: Gehört der Körper nicht schon viel früher ihr allein, bestimmt sie nicht selbst, wie sie sich kleidet, schminkt und frisiert? Wer bestimmt eigentlich, wie ein weiblicher Körper auszusehen und wie sich eine (junge) Frau zu verhalten hat?

Lydia Merkels kongeniale Bühne verleiht der inneren Zerrissenheit eines pubertierenden Mädchens Ausdruck.

Die 1983 in Solingen geborene und vielfach ausgezeichnete Autorin Özlem Özgül Dündar hat „Mädchenschrift“, eine Auftragsarbeit des Jungen Schauspielhauses Bochum, in Gesprächen mit dem jugendlichen Quartett der Drama Control, Annika Bode, Finnja Negendank, Nadege Eyadi Penda und Jonathan Berg, sowie der Schauspielerin Romy Vreden erarbeitet. So sind viele persönliche Geschichten und Erfahrungen in das Monodram eingeflossen, das danach fragt, woher eigentlich bestimmte Bilder von Weiblichkeit und der Drang, Frauen und ihre Körper zu beobachten und zu bewerten, kommen.

Selen Kara führt Regie

Regie führt die in Bochum in bester Erinnerung gebliebene Selen Kara („Blaubart – Hoffnung der Frauen“, „Istanbul“, „Mit anderen Augen“): die 1985 in Velbert geborene Schauspielerin und Regisseurin übernimmt ab der Spielzeit 2023/2024 zusammen mit Christina Zintl die Intendanz des Schauspiel Essen. Ihre 45-minütige Inszenierung speziell für ein junges Publikum ab Dreizehn lebt allein von der enormen Bühnenpräsenz Romy Vredens.

Einmal von der mantraartig vorgetragenen Behauptung, alte weiße Männer seien an Allem schuld, abgesehen, enttäuscht das Finale: Romy, nun eine inzwischen 15-Jährige, entblättert sich Schicht für Schicht aus dem Kokon der Kindheit, tritt selbstbewusst aus dem Neon-Quadrat heraus und auf das u-förmig um die Spielfläche sitzende Publikum zu. Um sich dann jammernd über die (jung-) männliche Anmache im Schwimmbad zu beklagen, anstatt zusammen mit ihrer Freundin solchen Anmaßungen offensiv entgegenzutreten. Beim Berliner Grips-Theater wäre ein Stück mit einer solchen defensiven Haltung in der Dramaturgie verstaubt.

Samstag, 29. Oktober 2022 | Autor: Pitt Herrmann