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Little Joe – Glück ist ein Geschäft: Joe (Kit Connor) und seine Mutter Alice (Emily Beecham).

Vorpremiere mit Gespräch im Casablanca Bochum

Little Joe – Glück ist ein Geschäft

Alice Wooday (Emily Beecham) ist eine junge, ehrgeizige Wissenschaftlerin bei Planthouse Biotechnologie, einem britischen Unternehmen, das sich mit der Entwicklung neuer Pflanzenarten beschäftigt und dabei voll auf Genmanipulation setzt. Die alleinerziehende Mutter des kleinen Joe (Kit Connor), der von seinem auf dem Land lebenden Vater Ivan (Sebastian Hülk) nichts wissen will und nichts dagegen hätte, wenn seine Mutter dem steten Werben ihres in etwa gleichaltrigen Kollegen Chris (Ben Whishaw) nachgeben würde, hat eine purpurrote Blume erschaffen, die nicht nur wunderschön ist, sondern wie einst das Tamagotchi auch eine besondere therapeutische Wirkung hat: bei idealer Temperatur unter einer Wärmelampe und täglicher Wasserzufuhr sowie regelmäßigem menschlichen Zuspruch macht sie ihre Besitzer glücklich!

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Tag und Nacht wachen Kameras über die Entwicklung verschiedener Designer-Pflanzen aus der Retorte in dem Hochsicherheits-Gewächshaus des englischen Unternehmens, mit denen sich der Laborchef Karl (David Wilmot) an der Flower Fair beteiligen will, einer weltweit beachteten Fachmesse, die „sogar Exporte in die EU“ voranbringt: Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im Herbst 2018 ging die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner (Lovely Rita-2001, Hotel-2004, Lourdes-2009, Amour Fou-2014) davon aus, dass zur Uraufführung im Mai 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen Cannes Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union vollzogen worden ist.

Little Joe – Glück ist ein Geschäft: Die Biologin Alice Wooday (Emily Beecham) am Arbeitsplatz.

„Was die Pflanzen wirklich brauchen, ist Liebe“, weiht Alice ihren Sohn ein, dem sie heimlich ein Exemplar der nun „Little Joe“ genannten Blume mit nach Hause nimmt. Was streng verboten ist, da weder die Versuchsreihen im Labor noch die Auswertung der Erfahrungen mit Probanden abgeschlossen sind. Zudem ist Alice besorgt über Nebenwirkungen der euphorisierenden Wirkung des Blütenstaubs: Die Mutter eines jungen Mädchens etwa spricht von einer bisher nie gekannten Launenhaftigkeit der Tochter. Verändern die Blütenpollen die Persönlichkeit der Probanden?

Zu einem ernsten Zwischenfall kommt es, als Bello, der stets friedliche und von allen geliebte Vierbeiner von Bella (Kerry Fox), der erfahrensten Pflanzenzüchterin des Unternehmens, in einem unbeobachteten Moment durch die aufwändig gesicherte Türschleuse zum klinisch-sterilen Treibhaus schlüpft. Das Menschen nach gründlicher Desinfektion nur mit Mundschutz betreten dürfen. Als Chris das Tier einfangen will, kommen beide mit Blütenpollen in Berührung. Was zunächst bei Bello Wirkung zeigt: der Vierbeiner wird störrisch und anderntags derartig aggressiv, dass Bella ihn einschläfern lässt. Die begleitende Blutuntersuchung des Tierarztes ergibt allerdings keine Anhaltspunkte für eine ungewöhnliche Reaktion.

Dennoch zeigt sich nicht nur Bella alarmiert. Alice hat Little Joe auftragsgemäß steril designt und Karls beste Züchterin vermutet, dass die Blume über ihre Pollen versucht, einen Ausweg zur eigenen – natürlichen – Vermehrung zu finden. Eine steile These, welche die Wissenschaftler ins Reich der Phantasie einer Frau verbannen, die zeitweise so stark unter dem Burn-Out-Syndrom litt, dass sie einen Selbstmordversuch unternahm. Aber auch Alice bemerkt Veränderungen im Verhalten ihres Sohnes, der ihr immer häufiger widerspricht, mit Selma eine Klassenkameradin als beste Freundin aus dem Hut zaubert und plötzlich partout zu seinem bisher von ihm verschmähten Vater Ivan ziehen will, auch wenn das einen erheblich längeren Schulweg bedeutet. Alice versucht vergeblich, ihre Züchtung durch Manipulation der Heizung zu torpedieren. Auf der Flower Fair wird Little Joe mit dem European Herb and Health Award ausgezeichnet. Glänzende Geschäftsabschlüsse sorgen für Schampus-Laune bei Karl und dem Team Wooday...

Erinnert sich noch jemand an Roger Cormans B-Picture Little Shop of Horrors aus den frühen 1960er Jahren? Vielleicht in der Musical-Version von Howard Ashman und Alan Menken, die ihre Deutschsprachige Erstaufführung am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier erlebte mit den beiden Hernern Silvia Droste und Waldemar Mauelshagen im Ensemble. So schwungvoll-lustig wie beim horriblen Blumenladen-Kaktus geht’s im gekünstelten Science-Fiction-Kosmos von Geraldine Bajard (Buch) und Jessica Hausner (Buch und Regie) nicht zu. Was nicht zuletzt auch an der Tonspur liegt: enervierende Technik-Geräusche wechseln ab mit auf Dauer nicht minder unerträglichen arabeskenhaften fernöstlichen Melodienfolgen des Minimalisten Teiji Ito.

Martin Gschlachts Kamera bewegt sich in hochartifiziellen Interieurs, bis auf ein traditionell eingerichtetes Pub und Ivans Naturstein-Haus im Outback wird die Außenwelt ausgeblendet (Szenenbild: Katharina Woppermann). Alices cleane Designerwohnung ist in die gleichen hellen Pastelltöne getaucht wie die Planthouse-Sozialräume, die Dienstkleidung und selbst ihre privaten Klamotten (Kostümbild: Tanja Hausner) und ihr orangegetöntes Haar fügen sich farblich nahtlos ein. Um dann umso mehr in Kontrast zu treten mit den knallrot ins Auge stechenden Wänden des Behandlungszimmers ihrer Psychotherapeutin (Lindsay Duncan). Little Joe spielt in einer unbestimmten Nah-Zeit, von Dystopie kann eigentlich nicht die Rede sein.

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Little Joe – Glück ist ein Geschäft, am 17. Mai 2019 bei den 72. Internationalen Filmfestspielen Cannes uraufgeführt, wo Emily Beecham als „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet wurde, feierte seine Deutschland-Premiere am 8. September 2019 beim Fantasy Filmfest in Berlin. Dieser 105minütige Mysterythriller, „Kopfhorror von allererster Ordnung“ (Programm Fantasy Filmfest), kommt am 9. Januar 2020 in unseren Kinos, zu sehen hierzulande etwa im Capitol Bochum sowie im Essener Luna im Astra. Vorab lädt das Casablanca Bochum am Mittwoch, 8. Januar 2020, um 19.45 Uhr ins Bermuda-Dreieck zu einer Preview mit Filmgespräch. Zu Gast ist Anika Pützner von der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Kognitive Psychologie.

| Autor: Pitt Herrmann