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William Bartley Cooper und Swetlana Belesova.

So sahen wir den Büchner-Klassiker noch nie

Leonce und Lena in Bochum

Das Schauspielhaus Bochum zeigt am Dienstag, 4. Juni 2019, das Stück Leonce und Lena von Georg Büchner. Das Stück, 1836 anlässlich eines Preisausschreibens des Cotta-Verlages entstanden und 1885 in München uraufgeführt, dieses Lustspiel über die deutsche Kleinstaaterei im Vormärz und über zwei zur Ehe gezwungene Fürstenkinder, die sich auf der Flucht voreinander unerkannt treffen und sich ineinander verlieben, scheint für das Regietheater ausgereizt. Was nicht nur mit Generationen von Germanisten zu tun hat, die sich um Gattungsbezeichnungen streiten, zentrale Stilelemente wie die marionettenhafte Determiniertheit der Protagonisten sowie ihr Sprechen in Epigrammen und Kalauern interpretieren und sich über Büchners ironische Verweise auf Werke der europäischen Romantik auslassen.

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Sondern vor allem mit dem breiten Spektrum der Aufführungspraxis vom tagesaktuellen deutsch-deutschen Wendedrama in den 1990er Jahren bis hin zu Robert Wilsons und Herbert Grönemeyers höchst kulinarischer Musical-Version. Auch die beiden letzten Bochumer Inszenierungen in den Kammerspielen an der Königsallee könnten unterschiedlicher nicht sein. Im Mai 1985 hat Claus Peymann den Autor beim Wort genommen und ein fulminantes Lustspiel mit Ulrich Gebauer und Julia von Sell in den Titelrollen an der Seite eines Klasse-Ensembles um Kirsten Dene, Fritz Schediwy, Imogen Kogge und Matthias Redlhammer inszeniert – angereichert mit buntschillernder Commedia dell'arte und Slapstick-Gaudi begnadeter Rampensäue wie Gerd Kunath (König Popo mit nacktem Hintern) und Urs Hefti.

Anne Rietmeijer und Veronika Nickl.

Im Wonnemonat des Jahres 1999 inszenierte Stefan Mayer auf den gleichen Brettern ein Trauerspiel mit den gestandenen Schauspielern Manfred Böll und Sabine Orleans als Leonce und Lena an der Seite von Henriette Thimig, Alexander Scheer – und dem heimlichen Protagonisten Steve Karier als Revolutionär Valerio. Der gleich zu Beginn Friede den Hütten – Krieg den Palästen aus Büchners Hessischem Landboten auf eine Schiefertafel schrieb und am Ende die beiden Nicht-Liebenden vor dem Traualtar erschoss aus Kritik an ihrem Rückzug ins Private. In der kalten Laborsituation einer Versuchsanordnung ersetzten Melancholie und Trauer die – leise – Utopie der vielleicht besten Komödie deutscher Sprache.

Beinahe exakt zwanzig Jahre später steht Leonce und Lena wieder auf dem Spielplan des Schauspielhauses Bochum, Aufführungsort ist nun die nüchtern-kahle, teilweise noch ursprünglich gekachelte Kaue der Zeche Prinz Regent im Bochumer Süden, in den letzten Jahren mehrfacher Aufführungsort des Herner Renegate-Theaters. Das Bochumer Regiedebüt der 32-jährigen Niederländerin Liliane Brakema befremdet zunächst durch die Ausstattung: Auf asphaltiertem Boden (Bühne: Bettina Pommer) lagern acht Schauspieler und vier Statisten zwischen vielleicht einem Dutzend Puppen. Das Designstudio Maison the Faux (Tessa de Boer/Joris Suk) hat alle Figuren in leicht glitzernde, wie bekleckert wirkende kurzarmige Einheitskostüme gesteckt, die über den Knien enden. Gelfrisuren-Köpfe, Arme und Beine dagegen sind individuell mit leuchtend blauer Farbe kontaminiert: Fantasy-Figuren, Cyborgs, Außerirdische? Eine noch unbekannte Spezies daueroptimistischer künstlicher Intelligenz, die auf dem körnigen Untergrund grimassiert und gestikuliert, schließlich in höfischen Konventionen erstarrt?

Fragen, die unbeantwortet bleiben, als William Bartley Coopers Leonce sich mit seinem Hofmeister (Amarenske Haitsma und Leonhard Meier teilen sich später auch die Rollen des Kammerdieners, des Präsidenten und des Zeremonienmeisters) über sein langweiliges Leben auseinandersetzt: „Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüsste, was mich noch könnte laufen machen.“ In Valerio (einmal mehr herausragend: Svetlana Belesova) findet er einen Verwandten im Geiste, mit dem zusammen er die Flucht ergreift vor dem des Herrschens überdrüssigen König (starke Szenen: Michael Lippold), welcher seinem Sohn zu Gattin und Thron verhelfen will, um endlich ungestört denken zu können. Bevor es in das Land geht, wo die Zitronen blühen, muss sich Leonce freilich noch seiner Geliebten Rosetta (herzzerreißend: Karin Moog) entledigen – auf eine einem Prinzen entsprechend schnöde Art: „O, eine sterbende Liebe ist schöner als eine werdende.“

Derweil haben sich auch Lena (Strahlefrau: Anne Rietmeijer) und ihre Gouvernante (Veronika Nickl) aufgemacht, um der Zwangsheirat zu entkommen – und landen im gleichen Wirtshaus wie Leonce und Valerio – mit den bekannten Folgen. „Mensch, du bist nichts als ein schlechtes Wortspiel“: Das sich kontinuierlich in seiner Bühnenpräsenz steigernde multinationale Bochumer Ensemble spricht Georg Büchner bis auf wenige Extempores im dritten Akt originalgetreu. In diesem geradezu dadaistisch anmutenden, ‘mal mit chorischem Summen unterlegten, ‘mal mit choreographischer Wucht aufgepeppten Setting wirkt die 183-jährige Vorlage wie ein ironisches, ja geradezu anarchisch-witziges Zeitstück von heute. Da hätte es der finalen Aufladung mit Fremdtexten (Homo programmatus, Erschaffung des neuen Menschen) gar nicht bedurft. Was auch für die Ohrenstöpsel gilt bei Wilko Sterkes dröhnendem Ausklang einer neunzigminütigen Büchner-Inszenierung, wie wir sie noch nicht erlebt haben. Unbedingt Karten sichern, gespielt wird en suite in der Zeche Eins nur noch bis Mitte Juni 2019.

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Die Aufführungsfotos stammen übrigens von einem gebürtigen Herner: Jörg Brüggemann, 1979 in Herne geboren und dort auch aufgewachsen, gehört seit 2009 zum Team der renommierten Berliner Fotoagentur Ostkreuz. Einige seiner Reportagen für große Magazine wurden an der Spree bereits in Ausstellungen gezeigt.

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  • Dienstag, 4. Juni 2019, um 19:30 Uhr
  • Mittwoch, 5. Juni 2019, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 8. Juni 2019, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann