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Keine gemütliche Lagerstatt auf Heizungs-Metall: eine in mehrfacher Hinsicht buntschillernde Jele Brückner in „Liebe“.

Argumentative Liebes-Übung in Bochum

'Leck mich!'

Wer kennt nicht Popeye, den muskulösen, stark tätowierten Seemann? Diese Comicfigur, erfunden vom amerikanischen Zeichner Elzie Crisler Segar, tauchte erstmals am 17. Januar 1929 in den Blättern der US-Zeitungsgruppe King Features auf. Seit den 1950er Jahren treibt der Spinat vertilgende, lässig eine Pfeife im Mundwinkel haltende Kerl, der stets ein Auge geschlossenen hält, weshalb ihm die halbe Welt entgeht, sein Unwesen auch in deutschen Medien.

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Doch wer ist Olivia Öl? Die Freundin an seiner Seite, „dünn, gereizt, selbstbewusst, idiotisch“, mit welcher der Macho nicht nur beim Bowling rüde umspringt: das mit den langen Armen kommt in der an Bildmetaphern reichen Bochumer Eröffnungsinszenierung der neuen Foyer-Spielstätte WeltHütte am Bochumer Schauspielhaus ebenso vor wie Unmengen von Spinat, die Olivia auszukotzen scheint. Zeit für ein emanzipatorisches Theater, die Verhältnisse geradezurücken und den Sidekick ins Rampenlicht zu stellen. Das hat die aus Israel stammende Hausautorin des Mannheimer Nationaltheaters, Sivan Ben Yishai, übernommen.

„Männer bestimmen nicht mehr, wie wir uns verhalten“ erwidert Olivia die gut gemeinten, aber halt längst überholten Ratschläge ihrer Oma wie: „Männer sind wie Hunde: eng bei Fuß halten und zähmen.“ Sie rekapituliert die Stimmen aus ihrer Vergangenheit, die ihr erklärt haben, wie Liebe funktioniert in einer naturgemäß heterosexuellen Paarbeziehung. Und ist der festen Überzeugung, keinen Mann zu brauchen „um ein gutes Leben zu haben“. Jele Brückner streift dabei die äußeren Merkmale Popeyes, seine Muskelpakete, wie lästige Accessoires ab – und hüllt sich in duftige Rüschen, wenn Olivia davon träumt, von ihrem Prachtexemplar von Mann nicht nur penetriert zu werden. Obwohl: „Sein Schwanz war wie ein drittes Familienmitglied, sein Schwanz war wie ihr Haustier“ sagt ihre Stimme aus dem Off.

Olivia, die erfolgreiche Schriftstellerin, die gerade an ihrem dritten Roman „Ahoi“ schreibt, hat in ihrem zweiten geschildert, wie sie als Zwölfjährige ihren ersten Orgasmus hatte – in der Badewanne mit dem Duschschlauch zwischen ihren Schenkeln: „Ich denke immer noch über den jungen, nackten Körper in der Badewanne nach und über den Schock, der ihm durch die unerwartete Lust widerfahren ist. Heftig und unmittelbar wie ein Schlag. Süß und endlos wie Softeis, das sich aus einer vibrierenden Maschine herausdrückt.“ Olivia, diese emanzipierte, feministisch aufgeklärte, intellektuelle Frau, ist dankbar, diesen einfach gestrickten, aber starken „Sailerboy“ an ihrer Seite zu haben. Der in einer Cafeteria jobbt statt seinen Traum, Filmregisseur zu werden, zu verwirklichen. Zumindest im ersten Akt.

Dringliche Sehnsucht

Im zweiten stellt sie fest, dass Popeye partout nicht in ihren Armen einschlafen will. Dass er noch nie, unter der Bettdecke versteht sich, händisch ihre Klitoris stimuliert hat, ganz zu schweigen von ihrer immer dringlicheren Sehnsucht, ihre Vulva geleckt zu bekommen. Weshalb sie „danach“ immer häufiger masturbiert. Und nun darob so in Rage gerät, dass Olivia ihre Selbstvergewisserung aus dem ersten Akt („Wir tun es – und ihr auch!“) ebenso ad acta legt wie den „Hauptdarsteller Schwanz“. Ihre Vagina mutiert zum selbständigen Organ, welches das feministische Porno-Verbot aufhebt und ihre Sucht nach Schamlosigkeit, die Geschichte voller Fick-Phantasien, Blut und Sperma („lasst uns jetzt stinken“) weitererzählt…

Bildmetaphernreiche Inszenierung: Olivias Träume vaginaler Befriedigung beherrschen den 2. Akt

„Liebe - Eine argumentative Übung“ entpuppt sich in der einstündigen, von Sophia Profanter (Bühne) und Tanja Maderner (Kostüme) ausgestatteten Bochumer Inszenierung, Online-Premiere war am 2. Mai 2021, als ein in mehrfacher Hinsicht radikal-tabuloses, aber auch selbstironisch-humorvolles Stück. Das „Liebe“ freilich allzu sehr auf Sex reduziert – zumindest aus Sicht eines alten weißen, aber in den bewegten 1960er und 1970er Jahren aufgewachsenen Mannes. Der sich erdreistet, dem Zeitgeist der Meinungsführer zu trotzen, nachdem nur Frauen in der Lage sind, sich mit einem Text über weibliche Sexualität zu befassen.

Diese, so der Untertitel, „Notaufnahme für fünf Stimmen und eine laute kollektive Intelligenz“ ist, nach einer von der Autorin selbst eingerichteten Voraufführung am Supranationaltheater Frauheim, am 26. September 2019 unterm gleichen Dach am Nationaltheater Mannheim in der Regie von Jakob Weiss uraufgeführt und zu den Mülheimer Theatertagen „Stücke 2020“ eingeladen worden. Nach Caro Thums Inszenierung am Theater Regensburg als Mehrpersonenstück nun eine dritte Variante als Monodram: Die Bochumer Regieassistentin Zita Gustav Wende, welche in Wien, Berlin und Stuttgart studierte und u.a. bei René Pollesch und Johann Kresnik an der Volksbühne Berlin lernte, hat das Stück auf zwei Stimmen reduziert: die der Autorin aus dem Off und die der dargestellten Figur Olivia Öl, beide gesprochen von der Schauspielerin Jele Brückner.

Neue Spielstätte

Mit „Love - An argumentative exercise“ ist die „WeltHütte“ am Schauspielhaus Bochum eröffnet worden, eine neue Spielstätte im Mittleren Foyer des Theaterschiffs an der Königsallee. Sie ist durch die große Fensterfront zum Theatervorplatz auch von außen gut sichtbar als kalkulierter Fremdkörper im legendären 1950er-Jahre-Design des Gebäudes: eine Blechhütte, die einerseits Schutzraum und Zuhause sein kann als auch Assoziationen weckt an unmenschliche Orte wie Hangar, Scheunen und Lager. Das Gebäude wurde ursprünglich von der Künstlerin Anna Viebrock für eine Inszenierung der Ruhrtriennale 2018, „Universe Incomplete“ in der Jahrhunderthalle Bochum, entworfen. Im Schauspielhaus sollen nun rund um das Gebäude Aufführungen entstehen, die eine besondere Nähe zwischen Publikum und Akteuren ermöglichen – sobald es das Corona-Infektionsgeschehen wieder zulässt.

In der Zwischenzeit werden die Inszenierungen als adaptierte Filmversionen über die Homepage des Schauspielhauses Bochum online zu sehen sein, „Liebe“ bis einschließlich 31. Mai 2021. Natalie Plaskura (Bildgestaltung) und Max Walter (Regie) weiten den Spiel-Raum der einmal mehr nachhaltig beeindruckenden, wie ihr Körper bunt schillernden Jele Brückner auf das ganze Foyer, den Rang-Umgang, die Treppen und am Ende sogar das Dach des Hauses aus – mit genrespezifischen Mitteln, wie sie dem Theater nicht zur Verfügung stehen. Es geht, in der Inszenierung vielleicht mehr als im Stück, auch um die Kunst und den Kunstbetrieb, wobei die sehr präsente Protagonistin mehrfach aus der Rolle fallend nicht nur die eigene Erzählung kommentiert und korrigiert, sondern immer wieder unmittelbar mit den Zuschauern kommuniziert.

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Montag, 3. Mai 2021 | Autor: Pitt Herrmann