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„Peer Gynt“ live bei den Ruhrfestspielen: Betritt mit der Kaiserkrone John Bocks die Bühne: Lars Eidinger.

„Peer Gynt“ live bei den Ruhrfestspielen

Lars Eidinger - ein Ereignis

„Jedes Wort ist die reine Wahrheit“: Schon der erste Satz Lars Eidingers in seiner grandiosen, zusammen mit dem Aktionskünstler John Bock entstandenen Fassung des 1867 im heimatfernen Italien entstandenen fünfaktigen Versdramas „Peer Gynt“ des Norwegers Henrik Ibsen ist eine Lüge. Denn zum einen erscheint der Ausnahme-Schauspieler nicht als kleiner Junge auf der Bühne, der seiner Mutter Aase Kummer bereitet, weil er immer neue aufschneiderische Geschichten erfindet anstatt etwas Ordentliches zu lernen oder doch wenigstens eine reiche Partie zu machen. Sondern als erträumter Kaiser mit der artifiziell-skurrilen Narrenkappen-Krone des auch als Filmemacher bekannten Berliner Künstlers, der später auf der von Unterhosen gebildeten Patchwork-Videowand als Trollkönig und als Trecker-Fahrer zu sehen ist.

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Zuvor schon hatte Intendant Olaf Kröck, der nach langem Lockdown am 4. Juni 2021 sichtlich bewegt erstmals wieder Publikum begrüßen konnte im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus, ein Lügenmärchen aufgetischt: Lars Eidinger habe sich bei den Wiederaufnahme-Proben der allein von den Ruhrfestspielen ermöglichten Co-Produktion mit Liège und Montpellier einen Finger abgeschnitten, der dann aber im Bergmannsheil wieder angenäht werden konnte, weshalb der Titeldarsteller nur unter Schmerzmitteln den zweieinhalbstündigen Abend bestreiten könne. Diese Geschichte hatte bei der Uraufführung am 12. Februar 2020 zwar schon ein Assistent dem damals noch entsetzten Berliner Schaubühnen-Publikum aufgetischt, sie wirkt aber immer noch. Obwohl beim live übertragenen Schmink-Prolog Eidingers und seiner Rezitation des Brecht-Gedichts „Der Theaterkommunist“ noch keine Armbanduhr als Schiene am linken Mittelfinger zu sehen war: die Zeit heilt offenbar alle Wunden im Handumdrehen.

Lars Eidinger wird mit seinem fulminanten Schaubühnen-Solo als Ibsens „Peer Gynt“ sicherlich für einen Höhepunkt im Jubiläumsprogramm sorgen.

Eidinger gastierte erstmals 2003 bei den Ruhrfestspielen in Thomas Ostermeiers Ibsen-Inszenierung „Nora“ in der Eisenlagerhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl, mit stehenden Ovationen gefeiert an der Seite Anne Tismers als spezieller, auf- und immer wieder auch zudringlichen Hausfreund Doktor Rank mit angedichtetem bewegtem bisexuellen Lebenswandel und Aids-Diagnose. In „Peer Gynt“ kommt er ohne sein Traum-Mädchen Solveig aus, gefällt sich als Luft-Keyboard spielender und in ein Bürsten-Mikro singender Pop-Star im abenteuerlichen Pop-Outfit mit den Hits der norwegischen Gruppe a-ha („Take on Me“ und „Hunting High and Low“ gibt’s später als Zugaben bis zum Beginn der auch im Netz übertragenen Diskussionsrunde, die den Abend auf vier äußerst kurzweilige Stunden powert) und tapert als Mutter Aase mit Rollator und Tropf über das bisweilen an Jonathan Meese und seine Arbeiten für Frank Castorfs Volksbühne erinnernden Bühnen-Environment.

Es besteht aus einem artifiziell angereicherten Melk-Rondell für Milchkühe, in das John Bock ein riesiges Kuh-Euter aus Stoff hineingesetzt hat, in welches sich am Ende der Bauernjunge Peer flüchtet wie in den Schoß seiner inzwischen verstorbenen Mutter. Die er hier persönlich an Petrus‘ Himmelspforte und vor Gott begleitet. Wohl aus technischen Gründen konnte dieser zunächst wie ein Elefant aussehender Patchwork-Trumm nicht angehoben werden, weshalb der Künstler, beim Publikumsgespräch via Zoom live aus der Hauptstadt zugeschaltet, einigen Erklärungsbedarf befriedigen musste. Was Lars Eidinger bei den Fremd-Texten u.a. von Donald Trump („I would give myself an A plus“), Charles Manson oder dem Rapper Kanye West weniger gelang als beim Theologen Eugen Drewermann, dem er im Paderborner Ibis-Hotel eine frei vorgetragene neunzigminütige Analyse des Symbolismus im „nordischen Faust“ entlockte, aus der zwei kurze Ausschnitte über die Video-Schirme zu sehen sind.

„Peer Gynt“ live bei den Ruhrfestspielen: Auch darstellerisch gefordert im Bühnen-Environment: Kamerafrau Hannah Rumstedt.

„Man muss das Chaos in eine tosende Ordnung bringen“: Antonin Artauds Abänderung einer Äußerung Friedrich Nietzsches, hat Lars Eidinger zum Motto seiner Inszenierung erhoben, die genuine Mittel des Theaters und des (Live-) Films mit performativer Installationskunst vereint. Verblüffend, wie der ganz in grüne Farbe getauchte Schauspieler durch die Greenscreen-Technik scheinbar im Bühnenbild aufgeht. Und nicht ganz jugendfrei in einer Troll-Szene mit drei professionellen Pornodarstellerinnen (Video: Miles Chalcraft), in die sich Peer hineinbeamt und doch nur ein kleines Männlein abgibt statt des erhofften Sex-Protzes. Wenn Lars Eidingers Peer dann mit großen leeren Augen in Hannah Rumstedts Livecam blickt und sich heim zu Mutter Aase sehnt, kommt kurzzeitig geradezu Mitleid auf. Und damit ein Effekt, den der Brecht-Bekenner Eidinger als Schauspieler („Hamlet“, „Richard III.“) tunlichst zu vermeiden sucht. Als Peer mit Batmans Joker-Face, goldenen Grills auf den Zähnen und Strapsen wie Frank N. Furter in der Rocky Horror Show mit slapstickhaften Gags, bei denen etwa ausgerülpste Kerzen vor einem Hausaltar oder ein schon Übelkeit im Parkett erzeugendes Milchmixgetränk eine Rolle spielen.

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Als Programm gibt’s übrigens auch auf Recklinghausens Grünem Hügel ein Bocksches Multiple: der Besetzungszettel umhüllt eine Unterhose und damit das zentrale Kostüm-Teil Eidingers, gleichzeitig als Videowand ein wichtiges Requisit. Die weiteren Aufführungen im Ruhrfestspielhaus: Sonntag, 6. Juni 2021, um 20 Uhr sowie am Montag, 7. Juni, um 20 Uhr. Es gibt noch Restkarten für die Vorstellungen über die Homepage der Ruhrfestspiele.

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  • Sonntag, 6. Juni 2021, um 20 Uhr
  • Montag, 7. Juni 2021, um 20 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann