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Wessi (U. Borchu, links) und Ossi (G. Tsogzol) in ihrer Jurte.

Zeitreise in die mongolische Wüste

Kino-Tipp: 'Schwarze Milch'

Weiße Bluse, hochgestecktes Haar, Parfümspray: die dreißigjährige Mongolin Wessi (Uisenma Borchu) ist in der deutschen Kultur angekommen. Sie lebt in einer großzügigen Münchner Altbauwohnung mit ihrem Freund Franz (Franz Rogowski) zusammen. Den offenbar nicht nur ihr „Gedudel“ stört, womit der prollige Feinripp-Deutsche Wessis heimatliche Volksmusik meint, sondern auch ihre wiederholten Ankündigungen, nach vielen Jahren erstmals ihre in der Wüste Gobi lebende Schwester besuchen zu wollen: „Du gehst nirgendwo hin. Du gehörst zu mir.“

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Mit subjektiver Kamera, Sven Zellner filmt Wessis Fenster-Perspektiven erst aus dem Flugzeug, dann durch diverse Autoscheiben, werden wir Zeugen ihrer Rückkehr zu den familiären Wurzeln, die einer Zeitreise vom 21. Jahrhundert zurück in die archaische Welt der Nomaden gleicht. Unterscheidet sich die Skyline der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar aus der Luft und zumal bei Dunkelheit nicht wesentlich von westlichen Metropolen, so öffnet sich schon kurz hinter der Millionenstadt die unendliche Weite der Steppe. Auf einem Gebiet, das viereinhalbmal so groß ist wie Deutschland, leben gerade einmal drei Millionen Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen allein in der Hauptstadt.

Während Stiefvater Boro (Borchu Bawaa), der Wessi mit dem Jeep zu ihrer Schwester bringt, Waschmaschinen aus westlicher Produktion verkauft und in einer Armensiedlung an der Peripherie Ulaanbaatars haust, lebt Ossi (Gunsmaa Tsogzol) mit ihrem Ehemann Budka (Bud-Ochir Tegshee) weit abgeschieden in der Wüste in einer traditionellen Jurte. Wie ihre Vorfahren betreiben sie eine nomadische Selbstversorger-Viehwirtschaft mit Pferden, Schafen und Ziegen. Vergorene Stutenmilch ist die Grundlage der meisten ihrer Mahlzeiten. Nur das Brandenburger Tor auf einer kleinen Wand mit Familienfotos und das Smartphone erinnern an die Neuzeit, in der während der sowjetischen Zeit verbotene schamanische und buddhistische Riten ebenso überlebt haben wie eine patriarchalische Familienstruktur.

Mit allen Sinnen nimmt Wessi die Eindrücke der Wüste auf, hilft ihrer Schwester beim Melken und der Käseherstellung, hütet auf dem Moped die immer wieder durch Wölfe dezimierte Herde und wundert sich, dass die hochschwangere Ossi klaglos zusieht, wie ihr Gatte lieber mit Freunden abhängt statt ihr bei der schweren körperlichen Arbeit zu helfen. Bei einem großen Fest mit Freunden und Nachbarn zu Ehren der Heimgekehrten wird Wessi von Boro ermahnt, die Traditionen zu achten. Gemeint ist das sich anbahnende Liebesverhältnis zum wesentlich älteren, einsiedlerisch lebenden Terbish (Terbish Dembderei), das von niemandem in der Familie gutgeheißen wird.

Franz (Franz Rogowski, links) und Wessi (Uisenma Borchu).

Über die Gründe schweigen sich alle ebenso aus wie über offenbar häufigere Vorfälle von Vergewaltigungen durch fremde Männer auf der Durchreise. Als ein solcher Eindringling (Bayarsaikhan Renchinjugder) die vor Entsetzten gelähmte Ossi aussperrt, um über Wessi herzufallen, ist aus dem Off der im Filmtitel aufgegriffene mysteriöse Satz zu hören: „Schwarze Milch fließt aus der Brust.“ Die Auflösung lieferte Borchu in einem Gespräch mit Carolin Weidner (taz vom 25. Februar 2020): „Ich habe in meinem Film versucht, die Kraft der Frau auszudrücken. Die Milch, die durch unsere Brust fließt, ist so etwas Starkes. Sie bedeutet Leben. Und solange sie im Körper der Frau ist, also in der Dunkelheit, ist sie schwarz. Die Kraft ist da, aber man sieht sie nicht. Und man übersieht sie auch gern. In unserer Gesellschaft wird die Stärke übersehen, die eine Frau in sich trägt.“

Was in dieser Nacht, in der Budka einmal mehr mit seinen Kumpanen säuft, statt die beiden Frauen zu beschützen, genau passiert ist, bleibt ein Rätsel, weil niemand darüber reden will. Das Kinopublikum wird mit dieser offenbar zentralen Szene zwischen Traum und Trauma allein gelassen. Problematisch für einen ganz auf Authentizität setzenden Spielfilm, der vor drastisch-realistischen Bildern etwa zweier „dokumentarisch geschlachteter“ Schafe, was auch immer darunter zu verstehen ist, nicht zurückschreckt.

Einerseits ist Ossi bemüht, sich der weltläufig-westlichen Eleganz ihrer Schwester zumindest ein wenig anzunähern. Indem sie etwa wie einst die ägyptischen Königinnen in Stutenmilch badet. Andererseits unterwirft sie sich vollständig den althergebrachten Riten und moralischen Auffassungen, wirft Wessi ihren genussreichen Sex mit Terbish vor, den sie sich nichtsdestotrotz in allen Einzelheiten schildern lässt. Und macht das unorthodoxe Verhalten ihrer Schwester letztlich dafür verantwortlich, dass wieder Schafe von Wölfen gerissen worden sind. Wessi flüchtet zu Terbish…

In „Schwarze Milch“ prallen scheinbar unüberwindbar unterschiedliche Lebens- und Sichtweisen aufeinander. Die in der Wüste geborene und mit ihren Eltern in der DDR aufgewachsene Regisseurin ist stets mit der Kollision zweier Kulturen konfrontiert gewesen: „Ich bin mongolisch und ich bin in den Jahren auch deutsch geworden.“ Zu ihrem zweiten semibiographischen Spielfilm nach ihrem international preisgekrönten Diplomfilm „Schau mich nicht so an“ von 2015 sagt Uisenma Borchu: „Ich finde es spannend, zu sagen, mit jedem Fortschritt ist der Mensch sich selbst fremder geworden. Ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass wir unseren Instinkt ganz verlieren werden? Wenn ja, dann ist dieser Film eine Hommage an unseren Instinkt.“

Kameramann und Produzent Sven Zellner, der seit 2008 mit Uisenma Borchu zusammenarbeitet: „Die Rückkehr von Wessi mag vielleicht scheitern, doch werden ihre Instinkte in der Wüste wach. Ein Ort, der sie in ihrer Kindheit geprägt hat. Sie muss ihre eigenen Regeln formen, denn ihr Zugang zu der Wüste ist ein anderer als der ihrer Schwester, die immer als Nomadin gelebt hat. Aber die Liebe der Schwestern und ihre gemeinsamen Wurzeln setzen Kräfte frei, die beide zwingen, sich weiterzuentwickeln, um die scheinbar unüberwindbaren Gegensätze zu bewältigen.“

Der erneut mit Laien gedrehte gut neunzigminütige Film lebt wesentlich auch von den stimmungsvollen Bildern des kargen Lebens in der unendlichen Weite einer unwirtlichen Landschaft, unterlegt mit mongolischer Volksmusik und dem grandios-sinfonischen Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur Wolfgang Amadeus Mozarts.

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„Schwarze Milch“ wurde am 21. Februar 2020 im Panorama-Wettbewerb der 70. Berlinale uraufgeführt und kommt am 23. Juli 2020 in unsere Kinos. In unserer Region zu sehen im Capitol Bochum, Sweet Sixteen Dortmund, Luna im Astra Essen sowie im Bambi Düsseldorf.

| Autor: Pitt Herrmann