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In der Flora-Apotheke in Crange wird Paracetamolsaft in Handarbeit hergestellt, um dem Lieferengpass entgegenzuwirken.

Flora-Apotheke stellt Paracetamolsaft her

Engpässe bei der Lieferung von Medikamenten

Medikamentenknappheit in Deutschland: Seit Wochen gibt es in Deutschland ein Problem bei der Beschaffung von Medikamenten. Anfang Januar 2023 sind rund 300 unterschiedlichste Mittel nicht lieferbar. Darunter befinden sich Antibiotika, Blutdrucksenker, Schmerzmittel – viele explizit für Kinder, wie zum Beispiel der fiebersenkende Paracetamolsaft für Kleinkinder und Babys.

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Schubladen in Apotheken sind leer

Junior-Chefin der Flora-Apotheke: Apothekerin Marlene Kissel-Lux.

Seit Wochen sind viele Schubladen in den Apotheken leer. Ist ein Medikament nicht lieferbar, dann empfehlen die Apotheker, in Absprache mit dem Arzt, ein Ersatzpräparat. Allerdings wird das mittlerweile immer schwieriger, da auch die Ersatzpräparate oft nicht zu bekommen sind. Zudem kostet es jede Menge Zeit, das richtige aus der Liste zu 'fischen'. Nimmt der betreffende Patient mehrere Medikamente ein, muss es zudem auf mögliche Kontraindikationen hin geprüft werden. Allerdings gibt es manchmal auch keinen Ersatz für ein nicht lieferbares Medikament.

Eltern fahren nach Holland

Ein aktuelles Beispiel für ein fehlendes Medikament ist der fiebersenkende Paracetamolsaft für Kleinkinder und Babys, der in Deutschland seit Wochen nicht mehr zu bekommen ist – in den deutschen Nachbarländern aber wohl. Dort gibt es allem Anschein nach keine Arzneimittelkrise. Es gibt verzweifelte Eltern, die fahren zum Beispiel nach Holland, um den notwendigen Saft dort zu kaufen.

Nun sind einige Apotheken dazu übergegangen, den Saft selber herzustellen, auch wenn das aufwändig und teuer ist. Eine dieser Apotheken ist die Flora Apotheke mit ihrem Hauptsitz in Crange und einer weiteren Apotheke in Eickel. halloherne hat mit der Junior-Chefin, der Apothekerin Marlene Kissel-Lux, gesprochen, die die Lieferschwierigkeiten bestätigt.

Apothekerin Marlene Kissel-Lux bei der Herstellung von Paracetamolsaft.

„Auch wir waren zwischenzeitlich nicht lieferfähig, da wir immer davon abhängig sind, was wir bekommen. Es ist tatsächlich so, dass man im europäischen Ausland den Saft noch bekommt. Dort ist er allerdings deutlich teurer als bei uns in Deutschland.“ So kennt sie Menschen, die sich von Freunden oder Verwandten im Ausland, die fehlenden Medikamente mitbringen lassen. „In den Medien wird es immer als ein Verteilungsproblem dargestellt, dass quasi genug da sei und einige wenige es horten“, erzählt sie. „Ich kann Ihnen aber versichern: Wir horten nichts. Wir haben Nichts. Wir kriegen nichts.".

Wobei die Probleme vielschichtig seien. So würden zum Beispiel Rabattverträge, die die Krankenkassen mit den Herstellern abschließen, den Lieferengpass verschärfen. „Bei den Paracetamolsäften zum Beispiel gab es drei Hersteller, die die Säfte für Deutschland noch herstellten," erzählt Kissel-Lux. „Die Hersteller bekommen in Deutschland einen solch niedrigen Betrag von den Krankenkassen, dass es für sie nicht mehr lukrativ ist, also haben sie die Herstellung für den deutschen Markt eingestellt.“ Dadurch sei die Schieflage, die es sowieso schon gab, ins Rutschen geraten.

Verlagerung der Wirkstoffproduktion nach Asien

Weiter erzählt sie: „Früher gab es die Arzneimittelherstellung noch im eigenen Land. Aber im Zuge der Globalisierung wurden viele Produktionsstätten nach Fernost verlagert, zum Beispiel nach China oder Indien.“ Allerdings gäbe es hier oft Qualitätsprobleme und zudem seien die Lieferketten auch schwach.

„Eine Packung Fieberzäpfchen oder Saft zu bekommen, gleicht fast einem 6er im Lotto.“

„Katastrophal wurde es im letzten Herbst“, erzählt Kissel-Lux, „als die Erkältungswelle über uns hereinbrach. Es waren plötzlich viel mehr Kleinkinder sehr krank. Aufgrund der starken Infekte, die vor allem die Atemwege betrafen, wurde die Versorgungslage immer schlechter. Sodass wir uns gezwungen sahen, zu kontingentieren. Heißt, wir schauen also genau hin, wo liegt der tatsächliche Bedarf."

In der Flora-Apotheke in Crange wird Paracetamolsaft in Handarbeit hergestellt, um dem Lieferengpass entgegenzuwirken.

Da die zweifache Mutter es gut nachvollziehen kann, wie es ist, wenn das Kind hoch fiebert und keiner kann richtig helfen, entstand der Plan, den fiebersenkenden Saft in der eigenen Apotheke herzustellen. „Allerdings“, sagt Kissel-Lux, „lange Zeit gab es auch keine Rohware und wir mussten mit der Herstellung warten.“

„Wir versuchen zu helfen und stellen deswegen jetzt Paracetamolsaft für Kinder ab 2 Jahren mit Kirschgeschmack her. Für Paracetamol haben wir uns entschieden, da der Saft eine Haltbarkeit von drei Monaten hat, bei Ibuprofen wären es nur zwei Wochen gewesen.“

Hergestellt wird der Saft – und jetzt auch fiebersenkende Zäpfchen – in Handarbeit. Für beide Medikamente sind mittlerweile alle benötigten Rohstoffe angeliefert worden. Wobei die Herstellung in Handarbeit ihren Preis hat. Marlene Kissel-Lux: „Wir können natürlich keine großen Mengen herstellen, haben aber die gleichen Standards wie die Industrie: Hygiene, Sauberkeit und Fachpersonal – das versteht sich ja von selbst.“ So kosten 100 ml Saft 19,80 Euro, 10 Zäpfchen zu 75 mg 9,50 Euro.

Die jetzige Situation bezeichnet Apothekerin Marlene Kissel-Lux durchaus als Notstand. „Und zwar nicht nur im Kinderbereich bei Paracetamol oder Ibuprofen, auch bei ganz vielen anderen Dingen wie Antibiotika oder Blutdruckmittel. Das grenzt schon an einer Mangelverwaltung. Wir bekommen zwar im Augenblick 95 Prozent der Leute versorgt, auch weil wir uns in Kombination mit dem Arzt austauschen, aber es wird immer schwieriger.“

Vater und Tochter: Apothekerin Marlene Kissel-Lux und Apotheker Hans-Georg Kissel – die zweite und dritte Generation der Flora-Apotheke in Crange.

Rabattverträge

Sogenannte Rabattverträge mit Arzneimitteln werden zwischen den Krankenkassen und den Herstellern der Arzneimittel auf freiwilliger Basis hergestellt. Dadurch wird die Gewinnspanne der Pharmaunternehmen kleiner. Der Hersteller sichert zu, dass für jede Arzneipackung, für die eine Rabattierung abgeschlossen wurde, ein Preisnachlass erfolgt. Damit sie Geld sparen, legen die Hersteller kaum noch Medikamentenvorräte an. Sie produzieren nur noch nach Bedarf. Und wenn die Produktion eines knappen Medikaments wieder anläuft, werden zunächst die Länder beliefert, in denen die Hersteller die besten Preise erzielen.

Eckpunktepapier

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will dem entgegenwirken und hat ein Eckpunktepapier entwickelt. Unter anderem sollen die Festbeträge – der höchste Betrag, den die Krankenkassen für das Medikament zahlen – für bestimmte Fertigarzneimittel für Kinder mit den Wirkstoffen Ibuprofen, Paracetamol und Antibiotika, die als Zäpfchen oder in flüssiger Anwendungsform vorliegen, ab Februar 2023 für drei Monate komplett ausgesetzt werden.

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Auf der Seite des Bundesgesundheitsministerium (BMG) schreibt Lauterbach: „Wir werden die Preisgestaltung von Kinderarzneien radikal ändern. Wir werden die Rahmenbedingungen für den patentfreien Arzneimittelmarkt ändern. Wir lockern Rabatt- sowie Festbetragsregeln und sorgen dafür, dass zuverlässige europäische Hersteller bei Vertragsabschluss bevorzugt werden.“

Sonntag, 22. Januar 2023 | Autor: Carola Quickels