
Eine besondere Freundschaft in der Filmwelt
Drei Oscars für Green Book
Der begnadete, mehrfach promovierte Musiker und furiose (Jazz-) Pianist Dr. Donald Doc Shirley (Mahershala Ali, Oscar-Preisträger 2016 für Moonlight), der als Komponist in den Carnegie Artist Studios arbeitet und in einem exquisit ausgestatteten Loft über der berühmten New Yorker Halle lebt, hat sich 1962 bewusst für eine Konzert-Tournee mit seinem Trio quer durch die USA bis in die Südstaaten entschieden. Es geht über Philadelphia, Ohio, Iowa und Kentucky bis nach Tennessee und New Orleans. Für einen Afroamerikaner wie Doc ein großes, bewusst eingegangenes Wagnis, auch wenn seine beiden Begleiter, der Cellist Oleg (Dimiter D. Marinov) und der Bassist George (Mike Hatton), Weiße sind. hier geht es zum Filmwelt-Programm
Weshalb der Plattenproduzent (P. J. Byrne) mit dem Italo-Amerikaner Tony Lip Vallalonga (musste für diese Rolle 15 Kilo aufspecken: Viggo Mortensen) einen Kerl von einem Mann als Fahrer engagiert, der in seinem Job als Türsteher des legendären New Yorker Nachtclubs Copacabana Furchtlosigkeit auch vor hohen Tieren bewiesen hat. Aufgewachsen in der Bronx hat er die Schule bereits nach der siebten Klasse geschmissen und sich mit Gelegenheitsjobs auch bei der Müllabfuhr über Wasser gehalten. Tony ist zwar ein einfacher Mann aus der Arbeiterklasse, aber auch ein verbal schlagfertiger, durchaus charismatischer und was sein Zuhause mit Gattin Dolores (eindrucksvolle Kurzeinsätze: die begnadete Komödiantin Linda Cardellini) und zwei Kindern betrifft, ein liebevoller Familienvater. Der seinen Spitznamen The Lip bereits in jungen Jahren erhielt, weil er in dem einzigartigen Ruf stand, jeden von wirklich allem überzeugen zu können.
Tony nimmt den achtwöchigen Roadtrip aus rein finanziellen Gründen an: 125 Dollar pro Woche plus Kost, Logis und Spesen machen den Verdienstausfall durch die renovierungsbedürftige Schließung des Clubs mehr als wett. Freilich empfindet er den stets elegant gekleideten Boss im Fond des taubenblauen Cadillac Coupe De Ville als leicht reizbar, überaus geziert und reichlich versnobt. Tony geht es auf die Nerven, dass ihn Doc Shirley nicht als Seinesgleichen akzeptiert, sondern ihn im Gegenteil zu erziehen versucht – sprachlich, outfitmäßig und im gesellschaftlichen Auftreten. Tony textet den zwischen Konzerten und Promi-Empfängen ruhebedürftigen Ausnahme-Musiker dermaßen zu, dass es nur eine Frage der Zeit erscheint, bis sich trotz vereinbarter hoher Konventionalstrafen die Wege der beiden so unterschiedlichen Männer vorzeitig trennen.
Donald Walbridge Shirley, der sehr gewissenhafte, geschmackvoll gekleidete, eloquente und höchst gebildete Mann, hat lange in Russland und England gelebt, spricht zahlreiche Fremdsprachen und hat eine ganze Reihe von Doktortiteln erworben. Er, der bereits im Alter von neun Jahren ein Klavier-Studium am Konservatorium in Leningrad begann und mit 18 Jahren sein Konzertdebüt gab in einem Tschaikowski-Programm mit dem Boston Sinfonieorchester, ist es gewohnt, äußerst zurückhaltende Fahrer zu haben. Die keine Pop-Musik im Autoradio hören, keine fettigen Chicken Wings in sich hineinstopfen und vor allem mit beiden Händen am Steuer stets den Blick nach vorn richten.
Desto weiter sie nach Süden vorstoßen, desto näher kommen sich die beiden. Tony erlebt erstmals hautnah die allgegenwärtigen Erniedrigungen Schwarzer durch rassistische Gesetze und willfähige weiße Erfüllungsgehilfen: Die erst 1964 durch den Civil Rights Act des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson gekappten Jim-Crow-Gesetze schränkten ein, wo Afroamerikaner essen, schlafen, sitzen, einkaufen und gehen durften. Sie legten fest, welche Trinkbrunnen und öffentlichen Toiletten sie benutzen durften – und betrafen nahezu sämtliche Aspekte des Alltags.
So ist Tony zunehmend als Bodyguard gefordert, um seinen Boss aus heute skurril anmutenden Situationen herauszuhauen. Einmal läuft es umgekehrt: Als zwei offen rassistische Polizisten (Jim Klock und Billy Breed) nachts den Straßenkreuzer anhalten und mitbekommen, dass ein Schwarzer im Fond sitzt, muss Doc trotz Wolkenbruchs aussteigen. Tony zeigt sein Unverständnis zu deutlich, wird selbst als halber Nigger beschimpft – und landet zusammen mit Shirley im Gefängnis. Was er nicht wusste: In einigen Sundown towns genannten Kommunen der Südstaaten wurden Sonnenuntergangsgesetze verfügt, welche es für Schwarze unter Bestrafung stellten, sich in der Dunkelheit auf den Straßen aufzuhalten. Erst ein Anruf Docs bei seinem Anwalt, der sich später als Justizminister Kennedy herausstellt, lässt den tumben Polizeichef (Dave Rhodes) stramm stehen.
Tony muss die Tour nach dem Negro Motorist Green Book planen, einem von 1936 bis 1966 jährlich neu aufgelegten Reiseführer für afroamerikanische Autofahrer, der die wenigen Unterkünfte und Restaurants auflistet, die auch schwarze Gäste bedienen. Sein Name geht übrigens auf den New Yorker Postboten Victor Hugo Green zurück, der in seinem Taschenbuch ursprünglich nur die Umgebung von New York erfasste. Tony sieht immer stärker den nicht zuletzt von eigenen familiären und sexuellen Problemen gepeinigten Menschen hinter der Fassade des arroganten Intellektuellen, der sich die Mitmenschen tunlichst vom Halse hält. Der in den vornehmen, naturgemäß den Weißen vorbehaltenen Clubs, in denen er mit seinen beiden Trio-Mitstreitern spielt, weder speisen noch auf die Toilette gehen kann. Und Doc Shirley erkennt die Qualitäten seines Fahrers, der mehr und mehr zu seinem Freund geworden ist. Weshalb er auch als Ghostwriter für Tonys wundervoll romantischen (Liebes-) Briefe an Dolores fungiert.
Die 130minütige Tragikomödie „Green Book schildert die besondere Freundschaft der beiden so unterschiedlichen Männer mit wundervoller (Situations-) Komik, die leider von den meisten Kritikern hierzulande als zu oberflächlich kritisiert worden ist. Weil sie dem bisher ausschließlich dem komödiantischen Unterhaltungsgenre verpflichteten Drehbuchautor, Regisseur und Ko-Produzenten Peter Farrelly (Verrückt nach Mary, Nach 7 Tagen ausgeflittert) einen solchen differenzierten Film nicht zugetraut haben?
Ich setze eine Schlüsselszene dagegen: Weil Tony Kühlwasser nachfüllen muss, hält er den Wagen am Straßenrand an. Auf dem Feld nebenan werden Arbeiter, sämtlich Afroamerikaner, auf den weißen Fahrer des schwarzen, vornehm gekleideten Mannes im Fond aufmerksam – und starren ihn wie ein Alien an. Die Szene ist stumm, es wird auch hinterher kein Wort über diese Begegnung verloren. Braucht es auch gar nicht bei einem Regisseur, der sich seiner Mittel sicher ist. Nebenbei: Peter Farrelly hat einen Abschluss in Bildender Kunst von der Columbia University und zwei Romane veröffentlicht.
Green Book basiert auf einer wahren Geschichte. Nach mehr als 50 Jahren Freundschaft starben die beiden Protagonisten Tony Vallelonga und Doc Shirley im Abstand von nur drei Monaten, Ersterer am 4. Januar 2013 im Alter von 82 Jahren, Letzterer am 6. April 2013 im Alter von 86. Bei den Golden Globes 2018 und den Oscars 2019 gab es jeweils drei Auszeichnungen als Bester Film, Bestes Drehbuch (Peter Farrelly, Brian Currie und Nick Vallelonga) sowie für Mahershala Ali in der Kategorie Bester Nebendarsteller.