
„Zeitgemäße Relevanz“ in Gelsenkirchen
Donizettis „Don Pasquale“
Work-Life-Balance gegen Self-Made-Karriere in den beiden vielfach verschrägten, beinahe ständig rotierenden Guckkästen Ivan Ivanovs, einem in Berlin lebenden Bulgaren, mit dem die vielgefragte ungarische Regisseurin und Lehrbeauftragte an der Berliner Universität der Künste, Zsófia Geréb, schon mehrfach zusammengearbeitet hat: Linkerhand schaut sich ein junges Paar Irvin Willats US-amerikanischen Stummfilm „The Cavalier“ aus dem Jahr 1928 an, in dem Barbara Bedford gegen den Willen ihres Vaters den Caballero Richard Talmadge liebt – mit kolossalen Folgen. Rechts blickt ein 70-Jähriger auf sein Leben zurück: private Super-8-Sequenzen und professionell gedrehte Filmschnipsel dokumentieren seine Kindheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit und den rasanten Aufstieg zu einem wohlhabenden, kunstliebenden Mann.
So zeitgenössisch beginnt Gaetano Donizettis Komische Oper „Don Pasquale“ jetzt am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier: Der betagte Titelheld (großartiger Schauspieler, aber stimmlich nicht mehr ganz auf der Höhe: Urban Malmberg) will sein Vermögen sichern und fordert seinen Neffen Ernesto (Khanyiso Gwenxane alternierend mit Adam Temple-Smith) auf, sich eine reiche Gattin zu suchen. Doch der liebt die mittellose junge Witwe Norina (Dongmin Lee alternierend mit der jungen, stimmgewaltigen Koloratur-Sopranistin Margot Genet, französisches Mitglied des Opernstudio NRW), weshalb Don Pasquale mit Enterbung droht.

Als alle Bitten nichts nützen, beauftragt der mit Bettpfanne und Rollator als Pflegefall stigmatisierte Pasquale da Corneto seinen Hausarzt und Freund Malatesta (kräftiger Bariton: Petro Ostapenko), ihm eine gute Partie zu besorgen. Der Doktor ist aber auch Ernestos Freund und hat eine rettende Idee: Er „verkauft“ dem plötzlich lebenslustigen, heiratswilligen Hagestolz die ihm persönlich unbekannte Norina als seine sanftmütige, gar schüchterne Schwester Sofronia. Frisch aus dem Kloster, kenne sie nichts anderes als Gehorsam und Arbeitsamkeit. Flugs ist ein Notar (Yancheng Chen) bei der Hand, um einen falschen Ehevertrag aufzusetzen.
Kaum ist dieser unterzeichnet, und der zunächst verblüffte, sich betrogen fühlende Ernesto ins Bild der Intrige gesetzt, macht Norina ihrem Gatten das Leben zur Hölle: Sie erweitert das Hauspersonal beträchtlich, gestaltet die Wohnung völlig um ohne Rücksicht auf die dort ausgestellten Kunstwerke (höre ich da billige Kritik an der Moderne in diesem auf Wokeness so versessenen Haus?). Und verschleudert auch sonst sein Vermögen. Mit dem gewünschten Ergebnis: Schnellstmöglich will der als Geizhals Molierescher Güte gezeichnete Pasquale die Prasserin wieder loswerden. Und ist überglücklich, als Ernesto für ihn einzuspringen bereit ist...
Gaetano Donizettis Belcanto-Oper „Don Pasquale“, am 3. Januar 1843 im Pariser Théâtre-Italien uraufgeführt, spielt ursprünglich im Rom des 18. Jahrhunderts und gilt nicht nur als letzte Opera buffa, sondern auch als Krönung dieses unterhaltsamen Genres. Zuletzt ist sie Ende Oktober 1993 am Kennedyplatz inszeniert worden mit der Klasse-Besetzung Elise Kaufman, Joachim Gabriel Maaß (in der Titelpartie), Tom Erik Lie und Thomas Piffka – noch in einer deutschsprachigen Fassung. Dreißig Jahre später wird der Dreiakter unter der nicht immer den Gesangssolisten dienlichen musikalischen Leitung von Giuliano Betta italienisch gesungen – naturgemäß.
Zsófia Gereb, für ihre Interpretation des Doppelabends „Das Wundertheater“ von Hans-Werner Henze und „Wachsfigurenkabinett“ von Karl Amadeus Hartmann mit dem 23. Gelsenkirchener Theaterpreis ausgezeichnet, ist mit ihrer zweieinhalbstündigen Inszenierung angetreten, Geschlechterklischees und Rollenzuschreibungen der 1950er Jahre (Hausfrauen-Werbung bebildern Malatestas Training der selbstbewussten Norina) bloßzustellen. Warum dann die angeblich so bescheidene, gerade aus dem Kloster kommende junge Frau bei der ersten Begegnung mit ihrem Zukünftigen in einem ausladend-farbenprächtigen Outfit nach Art Frida Kahlos (Kostüme: Vanessa Vadineanu) auftrumpft, erschließt sich mir wie so vieles andere (ein Untertage-Garten als düsteres Kunst-Magazin) an diesem Abend der behaupteten „zeitgemäßen Relevanz“ nicht.
Die weiteren Vorstellungen
- Samstag, 4. März 2023, 19:30 Uhr
- Sonntag, 12. März 2023, 16 Uhr
- Samstag, 18. März 2023, 19:30 Uhr
- Samstag, 1. April 2023, 19:30 Uhr
- Freitag, 21. April 2023, 19:30 Uhr
- Sonntag, 23. April 2023, 18 Uhr
Karten für die weiteren sechs Vorstellungen dieser Spielzeit unter musiktheater-im-revier.de oder an der Theaterkasse unter Tel 0209 – 40 97 200.
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- Samstag, 4. März 2023, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 12. März 2023, um 16 Uhr
- Samstag, 18. März 2023, um 19:30 Uhr
- Dienstag, 4. April 2023, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 23. April 2023, um 18 Uhr
- Donnerstag, 27. April 2023, um 19:30 Uhr