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In seiner Kolumne äußert sich Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey zur 'unendlichen Geschichte der Patientenakte'.

Kolumne von Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey

Die unendliche Geschichte der Patientenakte

Patientenakte - nein, nicht die „elektronische Patientenakte“, kurz ePA – ich rede nur von der Patientenakte, einer ebenso langen wie absurden Geschichte.

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Als Teenager in den späten fünfziger Jahren musste ich mal wegen einer Nierenbeckenentzündung behandelt werden. Das machte damals der Hausarzt, „praktischer Arzt und Geburtshelfer“ nannte er sich. Weil es mir ziemlich schlecht ging, wagte ich die Frage nach der Ursache meiner Beschwerden. „Das brauchst du nicht zu wissen, nimm die Medikamente wie vorgeschrieben“ war die Antwort unseres Hausarztes. Dass es sich um eine Nierenbeckenentzündung handelte, habe ich erst gut fünfzehn Jahre später erfahren (oder erraten), als ich – inzwischen hatte ich mein Studium abgeschlossen - ihn in seiner Praxis vertreten durfte, weil er gerade dabei war, ins Nirwana der Demenz abzutauchen.

Jedenfalls war seine zuvor immer reklamierte unerschöpfliche Gedächtnisdatei nicht mehr verfügbar. Seine Patientenkartei umfasste ca. 10.000 Patienten, passte aber locker in zwei Schreibtischschubladen. Jeder Patient hatte ein DIN A 5-Karteiblatt. Auf dessen Vorder- und Rückseite passten bei ihm alle Daten eines Patientenlebens, selten brauchte es mehr als eine halbe Seite.

Verweis auf sein Gedächtnis

Meine Daten nahmen weniger als eine halbe Zeile in Anspruch. Arztbriefe pflegte er immer schon nach flüchtiger Lektüre mit Verweis auf sein Gedächtnis und die ärztliche Verschwiegenheitspflicht zu entsorgen. Das Wissen darüber, wie er auf der Basis seiner Dokumentation eine realitätsnahe Abrechnung seiner Leistungen abliefern konnte, hat er am Ende ebenso mit ins Grab genommen wie die Möglichkeit, aus seinem „Datenbestand“ Informationen zur Vorgeschichte eines Patienten zu erhalten.

In meiner frühen Krankenhaustätigkeit hatte ich mir, ich weiß nicht mehr, warum, angewöhnt, Patienten, die nach Hause entlassen wurden, noch einmal ins Arztzimmer zu einem Abschlussgespräch zu bitten und ihnen bei der Gelegenheit den damals noch handgeschriebenen Kurzbericht für den Hausarzt auszuhändigen. Das Eintüten dieses Kurzberichtes in einem verschlossenen Briefkuvert hielt ich nicht für der Mühe wert – welch ein Frevel! Einige Monate ging das zwar problemlos.

Irgendwann jedoch begegnete die Königin der Station, eine schon etwas betagtere Nonne, vor deren strengem Regiment ich - noch – nicht die nötige Angst entwickelt hatte, einem Patienten mit dem offenen Kurzbericht in der Hand. Mit einem Aufschrei der Empörung stürzte sie auf ihn zu, entriss ihm den Kurzbericht, versenkte diesen in ein Briefkuvert, nicht ohne dieses zusätzlich mit Tesafilm zu verkleben und mit einem Stempel - „Vertrauliche Arztsache, nur durch den Hausarzt zu öffnen“ – zu versehen.

Die Nonne hat es nicht gemerkt

Ich musste daraufhin zum Chef, wo mir unter dem Beisein der streng blickenden Nonne eingeschärft wurde, was Patienten mit derartigen Berichten für „Unheil“ anrichten könnten. Danach habe ich den Brief immer in ein Kuvert gesteckt, aber den Patienten auch mitgeteilt, was ich über sie berichtet hatte. Den Stempel und das Anlecken der Klebelinie habe ich mir aber, wenn ich mich recht erinnere, geschenkt. Die Nonne hat´s auch nicht gemerkt.

Zu Beginn meiner eigenen Praxistätigkeit bekam ich dann auch regelmäßig Arztbriefe. Von denen ließ ich den Patienten gerne eine Fotokopie anfertigen. Grund war in erster Linie, meine Mitarbeiterinnen zu entlasten. Damit glaubte ich, die zeitraubenden regelmäßigen Anfragen nach Vorbefunden von Kliniken und mitbehandelnden Kollegen umgehen zu können. Regelmäßig erhielt ich aber auch Berichte, auf denen per Stempel stand: „Mit Verweis auf § 203 Strafgesetzbuch darf dieses Schreiben dem Patienten nicht zugänglich gemacht werden!“ Der § 203 StGB behandelt die Schweigepflicht. Die gilt im Prinzip sogar gegenüber mitbehandelnden Ärzten, keineswegs jedoch gegenüber dem Patienten!

Schon vor mehr als 200 Jahren führte man in Bayern eine gesetzliche Pockenimpfpflicht ein. Ohne eine Archivierung patientenbezogener Daten wäre das gänzlich unmöglich gewesen. Mehr als die Narbe der Impfreaktion bekamen die Patienten zur Dokumentation der Behandlung nicht. Man sieht also, die Entmündigung der Menschen, wenn sie zum Patienten werden, ist eine Jahrhunderte alte Tradition. Zwar hat es eine Reihe schüchterner Versuche mit Impf-, Röntgen-, Vorsorgepässen und dergleichen mehr gegeben. Zu einer echten Patientenakte hat es nie gereicht. Hätte man damals schon die Menschen verpflichtet, ihre eigene Krankenakte führen, ich bin mir sicher, es hätte sich ein ganz und gar anderer Bezug zur Gesundheit und zum Gesundheitswesen entwickelt.

Unnütze Pflegetage und Irrwege

Und welch unermessliche Kosten und Risiken hat diese Entmündigung verursacht. Ärzte, Krankenhäuser und wer sonst noch an der Behandlung von Patienten beteiligt ist, müssen gigantische Ressourcen an Raum und Personal für Patientenaktensilos bereitstellen. Wie viele unnütze Pflegetage müssen auch heute im Zeitalter von Internet und elektronischen Speichermedien noch aufgewandt werden, bis erforderliche Vorbefunde vorliegen? Wie viele Irrwege in der Behandlung und Diagnostik könnten vermieden werden, wenn alle relevanten Daten der Krankengeschichte zeitnahe verfügbar wären? Zu allen möglichen (gesundheits-)systemimmanenten Ursachen von Krankenhaushygiene, Behandlungsfehlern bis zu Medikamentennebenwirkungen gibt es Berechnungen, wie viele Todesfälle dadurch verursacht werden. Zu fehlenden Vorbefunden gibt es – nichts!

Nicht einmal Informationen über früher verordnete Medikamente sind verfügbar. Dabei wäre diese Information technisch bereits mit der 1995 eingeführten Krankenversicherungskarte, die nur einen Magnetstreifen für die Datenspeicherung hatte, möglich gewesen. Für Arztpraxen, die Eingriffe unter Narkose oder Sedierung auf Überweisung von anderen Ärzten durchführen, ist es ein tägliches Ärgernis und auch Risiko, keine oder unvollständige Medikamentenpläne zur Verfügung zu haben. Warum aber bewegen wir uns heute immer noch auf dem Niveau der Krankenversicherungskarte von 1995?

Das Problem ist: Es ging nie nur um Patientensicherheit und Austausch ärztlich relevanter Daten, schon gar nicht um einen mündigen Bürger als Patient. Schon unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt brachte ein junger Herr Lauterbach vor ca. 20 Jahren neben der (inzwischen katastrophal gescheiterten) Idee der Fallpauschalen in den Kliniken auch die einer elektronischen Patientenakte (ePA) aus den USA mit nach Deutschland. Zur Praxistauglichkeit hatte er bei fehlender Praxiserfahrung keinen Bezug. Vor allem aber ging es ihm um den gläsernen Arzt und Patienten.

„Eierlegende Wollmichsau“ erfinden

Seither scheiterten alle Gesundheitsminister an dem Versuch, mit der ePA die „eierlegende Wollmilchsau“ zu erfinden. Immer fehlte es an organisatorischer und technischer Praxistauglichkeit oder mangelnder Datensicherheit. Nach Lauterbachs damaligen Plänen hätte allein die Ausstellung eines Wiederholungsrezeptes mindestens 10 Minuten beansprucht. Wer bitte soll die Milliarden Befund- und Entlassungsberichte, die Röntgen-, CT- und MRT-Bilder, die Befunde der Pathologie und Hygieneinstitute, die Werte der vielen unterschiedlichen Labore sammeln und in der ePA abspeichern? Oder sollen nur die ab einem bestimmten Tag X anfallenden Befunde in der ePA gespeichert werden? Dann wird es noch Jahre bis Jahrzehnte dauern, bis man auf das Sammeln analoger Daten verzichten kann und die ePA wird für das, was sie leisten soll, unbrauchbar sein.

Ich würde die Pflicht eines jeden Bürgers befürworten, seine eigene Patientenakte zu führen, egal, ob als analoge Papierdatei oder auf einem elektronischen Datenträger. Ich hätte auch nichts gegen eine zentrale anonyme Falldatenspeicherung z. B. beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Das könnte phantastische Perspektiven für die Wissenschaft eröffnen. Bei einer Speicherung der Daten bei den Krankenkassen wäre ich da schon sehr misstrauisch.

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Mulmiges Gefühl der Vertraulichkeit

Viele der Betriebskrankenkassen früherer Zeiten haben mit ihren engen Bezügen zu den jeweiligen Arbeitgebern bei mir und vielen Kollegen, aber auch bei den Arbeitnehmern ein höchst mulmiges Gefühl bezüglich der Vertraulichkeit von Gesundheitsdaten verursacht. Natürlich wäre es auch fantastisch, könnte man seine Arbeitsunfähigkeit, seine Facharztüberweisung oder Krankenhauseinweisung per QR-Code, der alle relevanten Daten beinhaltet, ähnlich wie die Fahrkarte der Deutschen Bahn auf dem Handy, vorlegen. Ich bin jedoch sehr skeptisch, ob es unserem datengeilen, aber praxisfernen Gesundheitskarl gelingen wird, den gordischen Knoten aus technischem Wirrwarr, Datenschutz, Datennutzung und Praxistauglichkeit mit der elektronischen Patientenakte zu durchschlagen.

| Autor: Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey
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