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Theaterproben unter freiem Himmel mit der Taiwanesin Janice Chan (Sonia Yuan) und der taubstummen Koreanerin Lee Yoon-a (Park Yurim).

„Drive My Car“ neu im Kino

Der Weg ist das Ziel

Der Schauspieler Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima), der gerade in Samuel Becketts „Warten auf Godot“ auf der Bühne steht, ist mit der Autorin Oto (Reika Kirishima), die bei der TV Japan Media Holding tätig ist, glücklich verheiratet. Obwohl sie ihre Tochter im Alter von vier Jahren verloren und danach entschieden haben, kein zweites Kind zu wollen. Beim Sex erzählt sie ihm vom aktuellen Drehbuchprojekt, in dem eine Frau heimlich, wenn seine Eltern abwesend sind, in die Wohnung von Yamaga, des erst 17-jährigen Objektes ihrer Begierde, einsteigt und dort etwas von sich hinterlässt.

Als Yusuke zu einem auswärtigen Gastspiel zum Airport fährt, wird sein Flug kurzfristig gestrichen. Er kehrt nach Hause zurück – und erwischt Oto inflagranti mit dem jungen Yamaga-Darsteller Kôji Takatsuki (Masaki Okada). Er schleicht sich unerkannt heraus und kehrt eine Woche später unbefangen zu Oto zurück. Die ärztliche Untersuchung nach einem kleinen Autounfall, sein knallroter Oldie Saab 900 Turbo hat nur ein paar Schrammen abbekommen, ergibt, dass Yusuke eine Glaukom genannte unheilbare Augenschädigung hat. Er darf aber weiterhin Auto fahren, sodass er die von seiner Gattin auf Cassette gesprochenen „Onkel Wanja“-Dialoge im Auto mit dem Text seiner Paraderolle ergänzt auf der Fahrt zu einem Workshop. Bei seiner Rückkehr findet er Oto in der Wohnung tot vor – Hirnblutung.

Der Weg ist das Ziel: Der Regisseur (Hidetoshi Nishijma) und seine Fahrerin (Tōko Miura) kommen sich in den langen täglichen Touren näher.

Zwei Jahre später. Yusuke Kafuku steht nicht mehr auf den Brettern, sondern sitzt am Regiepult. Er ist in seinem geliebten, 15 Jahre alten Saab mit der Stimme seiner Frau im Recorder, deren Tod er noch nicht verkraftet hat, nach Hiroshima gefahren, um bei einem Festival „Onkel Wanja“ mit einem international gecasteten diversen Ensemble zu inszenieren. Mit dabei auch die taubstumme Koreanerin Lee Yoon-a (Park Yurim), wie sich später herausstellt die Gattin seines Assistenten – und, als ungewöhnlich junge Besetzung für die Titelrolle, Kôji Takatsuki, der letzte Liebhaber Otos. Was zwischen den beiden Nebenbuhlern unausgesprochen bleibt, selbst als Letzterer immer wieder das Gespräch mit Kafuku sucht.

Unterstützt von der Festival-Managerin Yuhara (Satoko Abe) und dem vielsprachigen Regieassistenten Kon Yoon-su (Dae-Young Jin) beginnen die Proben. Für die täglichen, in Summe mehrstündigen Fahrten zwischen seinem idyllisch an einem See gelegenen Hotel und dem Probenort hat ihm die Festivalleitung mit der 23-jährigen Misaki Watari (Tōko Miura) eine Chauffeurin zugewiesen. Beide kommen sich allmählich näher. Erzählen sich gegenseitig ihre Familiengeschichten. Bald sitzt Kafuku nicht mehr hinter ihr im Fond, gönnt sich die eine oder andere Zigarette (nicht eine Kippe landet außerhalb der dafür vorgesehenen Box). Als Kôji Takatsuki bei den Endproben verhaftet wird, muss sich Kafuku binnen zweier Tage entscheiden, ob er die Produktion platzen lässt oder selbst die Titelrolle übernimmt...

Der Regisseur Ryūsuke Hamaguchi wurde 1978 in Kanagawa, Japan geboren. Nach seinem Abschluss an der Universität von Tokio arbeitete er einige Jahre in der Filmbranche, bevor er an der Universität der Künste in Tokio ein Filmstudium aufnahm. Er schrieb das Drehbuch für Kiyoshi Kurosawas „Wife of a Spy“, der 2020 den „Silbernen Löwen“ für die beste Regie bei der Biennale in Venedig gewann. Während „Wheel of Fortune and Fantasy“ bei der Berlinale 2021 den Silbernen Bären für den Großen Preis der Jury gewann, wurde am 11. Juli 2021 „Drive My Car“ bei den Int. Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt und sowohl mit der „Palme“ für das beste Drehbuch als auch dem Fipresci-Preis der Filmkritik ausgezeichnet.

„Doraibu mai ka“, so der Originaltitel dieses großartigen Poems über das Leben im Allgemeinen und die Magie des Theaters im Besonderen, basiert auf den beiden Erzählungen „Drive My Car“ und „Scheherazade“ von Haruki Murakami, die 2014 im Band „Von Männern, die keine Frauen haben“ erschienen sind, im gleichen Jahr auch in deutschsprachiger Übersetzung von Ursula Gräfe bei DuMont. Nach rund dreißig Festival-Auftritten mit mehr als einem Dutzend Preisen kommt der mit 179 Minuten überlange, aber niemals langweilige Film am 23. Dezember 2021 in unsere Kinos, hierzulande u.a. ins Capitol Bochum, in die Galerie Cinema Essen und ins Bambi Düsseldorf. Das Bochumer Kino Endstation zeigt die OmU-Fassung ab 13. Januar 2022.

Donnerstag, 23. Dezember 2021 | Autor: Pitt Herrmann