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Mathias Znidarec in der Titelrolle des Reisenden (vorn) in einer sehr musikalischen Produktion mit (hinten v.l.) Kai Weiner, Alexey Ekimov, Lene Dax, Ceren Bozkurt und Philipp Noack.

Dramatisierung eines vergessenen Romans

'Der Reisende' in Essen

Deutschland im November 1938: Otto Silbermann (Mathias Znidarec) ist ein gutsituierter Kaufmann aus Berlin. Dass er jüdische Wurzeln hat, spielt in seinem Leben keine größere Rolle. Doch das ändert sich, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gewählt werden. Als seine Verwandten und Freunde verhaftet werden oder spurlos verschwinden, versucht er, irgendwie einen Ausweg zu finden, unterzutauchen oder dieses Land zu verlassen.

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„Früher veranstaltete die Reichsbahn Fahrten ins Blaue, erinnerte er sich. Jetzt veranstaltet sie die Reichsregierung“: Otto Silbermann wird vom Großbürger zum Gejagten, der plötzlich ohne jede Rechte dasteht. Während seine arische Gattin Elfriede (Lene Dax) bei ihrem Bruder Ernst Hollberg (Alexey Ekimov) in Küstrin unterkommt, einem überzeugten Nazi, reist er verzweifelt mit der Reichsbahn quer durch Deutschland, da er auch von seinem Schwager im Stich gelassen wird: „Wenn die Partei dahinterkommt, dass ich mit einem Juden versippt bin und ihn sogar bei mir wohnen lasse, kann ich meine Koffer auch gleich packen.“

Chaotische Verhältnisse

Ursula Angelhof (Lene Dax) hätte mehr sein können als eine zufällige, temporäre Reisebegleiterin für Otto Silbermann (Mathias Znidarec).

Otto Silbermann ist mit den chaotischen Verhältnissen überfordert: „Schwung? Mich hat das Leben in normale Verhältnisse hineinerzogen. Ich brauche Ordnung! Klarheit! Wenn Sie wollen: Methode. Man muss schon im Trubel groß geworden sein, wenn man ihm gewachsen sein soll“ sagt er zu Ursula Angelhof (Lene Dax), einer zufälligen Zugbekanntschaft. Mit der Berlinerin hätte sich durchaus mehr entwickeln können.

Ein versuchter Grenzübertritt nach Belgien scheitert und als im Zug von Dresden, wo er kurz im Krankenhaus lag, seine Aktentasche mit 30.000 Mark gestohlen wird, liefert er sich freiwillig der Polizei aus: „Soll das nun ewig so weitergehen? Das Reisen, das Warten, das Fliehen? Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprügelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweiflung, und dort lassen sie einen stehen.“ Doch die Polizei in Person von Kommissar Turner (Philipp Noack) spuckt ihn als Freiwilligen im Ersten Weltkrieg im wahren Wortsinn wieder aus. Verhaftet wird Otto Silbermann eher zufällig – an der Seite seines Berliner Rechtsanwaltes Löwenstein. Freilich nur im Roman…

Gleichgültigkeit der Masse

In dem Roman „Der Reisende“, den der 23-jährige Ulrich Alexander Boschwitz ab November 1938 auf der Flucht in Luxemburg und Brüssel schrieb, erleben wir mit seiner Hauptfigur die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einiger Weniger und Otto Silbermanns zunehmende Todesangst. Das knapp 300-seitige Werk spiegelt in elf Kapiteln auch die Geschichte des Autors wider: 1915 als Sohn eines jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter in Berlin geboren, konnte Boschwitz über Schweden nach England entkommen. Dort wurde er nach Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ interniert und nach Australien gebracht. Auf der Rückreise 1942 wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert. Der erst 27-jährige Schriftsteller ertrank wie hunderte andere Passagiere auch.

Noch zu dessen Lebzeiten waren englische und amerikanische Ausgaben des „Reisenden“ erschienen, 1945 auch eine französische Übersetzung. Hierzulande erschien der Roman, dessen auf Deutsch geschriebenes Originaltyposkript in den 1960er Jahren nach Frankfurt/Main gelangte und im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek verstaubte, erst 2018. Vor allem, weil Boschwitz‘ Nichte, die in Israel lebende Reuella Sachaf, unermüdlich dafür gekämpft hat: 30 Jahre lang habe sie versucht, Menschen in Israel für dieses Buch zu gewinnen, doch „keiner war interessiert.“ Dann habe ihr der Literaturkritiker Avner Shapira der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ geholfen, den Kontakt zum deutschen Verleger Peter Graf herzustellen.

Frühes Zeugnis

„Der Reisende“ ist ein frühes Zeugnis der schleichenden Radikalisierung in der Weimarer Republik bis hin zur sog. Reichsprogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Der Roman erschüttert vor dem Hintergrund zunehmenden Antisemitismus und eines bedrohlichen Anstiegs des Rechtspopulismus in Europa als authentisches Zeugnis und es ist dem deutsch-türkischen Filmemacher, Theaterautor und Regisseur Hakan Savaş Mican zu danken, dass er den Roman für die Bühne adaptiert hat, heftig umjubelte Premiere war am 13. September 2024 im Essener Grillo-Theater.

Der 1978 in Berlin geborene, bei den Großeltern in der Türkei aufgewachsene und seit Ende der 1990er Jahre wieder in Berlin lebende Absolvent der der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) hat sich weitgehend an die Vorlage gehalten, einiges wie den gescheiterten Fluchtversuch gestrafft oder Begebenheiten in den Zügen zugespitzt. Über direkte Eingriffe, so ist der Judenhass im Untersuchungsgefängnis gestrichen, kann man ebenso streiten wie über den veränderten Schluss mit einem im Roman nicht auftauchenden Gemälde mit der affirmativen Aufschrift „to resist“ („leiste Widerstand“).

Neues Deutsches Theater

Hakan Savaş Mican hat es freilich nicht bei einer Bearbeitung belassen, sondern diese mit eigenen Texten ergänzt: Neben autobiografische Betrachtungen auf die literarische Vorlage geht es um die eigene Familiengeschichte, vor allem die seiner Eltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und nicht gerade freundlich empfangen worden sind. Das kann man anmaßend finden, dem Autor freilich nicht zum Vorwurf machen. Sondern Theaterleitungen wie der Oberhausener vor zwei Jahren, wo Hakan Savaş Mican, Premiere war am 6. Mai 2022 auf der Probebühne 2, „Transit“ von Anna Seghers mit seiner Geschichte verknüpfte und mit Aufnahmen einer Europa-Reise von 2019 mit dem Videofilmer Benjamin Krieg bebilderte, die jetzt auch im Grillo-Theater zu sehen sind.

Warum sollte aus seiner Sicht das, was beim Exilroman „Transit“ über einen Deutschen, der 1937 aus einem Konzentrationslager nach Frankreich flüchtete, funktionierte, nicht auch bei „Der Reisende“ klappen? So neu ist das „Neue Deutsche Theater“ am Schauspiel Essen also nicht. Nach der Premiere wurde auf offener Bühne Friedrich Merz mit Björn Höcke verglichen und die aktuelle Bundesregierung gleich mit verunglimpft. Stehende Ovationen eines Publikums, das ganz bei sich ist. So vertiefen woke Theatermacher, die sich nicht nur moralisch überlegen fühlen, sondern sich im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnen, die Spaltung unserer Gesellschaft.

Die nächsten Aufführungen der dreistündigen, für Besucher ab 16 Jahren empfohlenen Inszenierung im Grillo-Theater in der Essener City (unweit Hauptbahnhof :

  • Samstag, 21. September 2024, 19:30 Uhr
  • Sonntag, 22. September 2024, 16 Uhr
  • Donnerstag, 10. Oktober 2024, 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 24. Oktober 2024, 19:30 Uhr

Karten

Karten unter theater-essen.de sowie unter Tel 0201 – 81 22 200.

Oktober
24
Donnerstag
Donnerstag, 24. Oktober 2024, um 19:30 Uhr Grillo Theater, Theaterplatz 11, 45127 Essen
Vergangene Termine (3) anzeigen...
  • Samstag, 21. September 2024, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 22. September 2024, um 16 Uhr
  • Donnerstag, 10. Oktober 2024, um 19:30 Uhr
Montag, 16. September 2024 | Autor: Pitt Herrmann
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