Fitzgerald-Adaption in Bochum
Der große Gatsby
„Nicht jedem von uns wird gleich viel Gespür für die Grundregeln des Anstands in die Wiege gelegt“: Der junge Broker Nick Carraway (Alexander Wertmann) kehrt 1922 an die Ostküste zurück, wo seine Familie seit drei Generationen Ansehen und Wohlstand genießt. Der sich selbst als einen „umfassend gebildeten Mann“ bezeichnende Ich-Erzähler in F. Scott Fitzgeralds 210-Seiten-Roman „The Geat Gatsby“ aus dem Jahr 1925 bezieht ein kleines Haus auf Long Island etwas außerhalb New Yorks.
Über Daisy (Anna Drexler), der mit der steinreichen Sportskanone Tom Buchanan (Konstantin Bühler) verheirateten Tochter einer Cousine zweiten Grades, lernt er deren Freundin Jordan Baker (Jele Brückner) kennen, die ihre „weiße Kindheit“ gemeinsam in Louisville verbracht haben. Letztere ist gut bekannt mit Nicks Nachbarn James Gatz, den er bisher nur kurz zu Gesicht bekommen hat. Er wird in der New Yorker Gesellschaft nur „der große Gatsby“ genannt, da er allabendlich Hof hält in seiner in einem 16 Hektar großen Park gelegenen Villa, dem Nachbau eines Schlosses in der Normandie.
Spätestens, als sich herausstellt, dass Nick und Jay Gatsby im Ersten Weltkrieg der gleichen Division angehört haben, werden aus Nachbarn Freunde. Ungleiche Freunde, was den Lebensstil, nicht aber das Selbstbewusstsein betrifft: „Jeder schreibt sich selbst mindestens eine Kardinaltugend zu“, so Nick Carraway, „und bei mir ist es diese: Ich bin einer der wenigen ehrlichen Menschen, die ich kenne.“
Jordan Baker weiß, dass Daisy und Jay sich von früher kennen. Dann aber aus den Augen verloren haben. Gatsby ist nicht zufällig ins vornehme Egg Village gezogen: von seinem Park aus hat er das Haus der Buchanans im Blick. Nach fünf Jahren arrangiert Jordan ein erneutes Zusammentreffen beider bei Nick daheim - ein ganz intimer emotionaler Höhepunkt der neunzigminütigen Bochumer Inszenierung der jungen Regieassistentin Zita Gustav Wende vor dem noch geschlossenen Vorhang. Es funkt sofort zwischen Daisy und Jay und Letzterer hofft, dass sich seine große Liebe von ihrem notorisch untreuen Gatten lossagt. Tom macht gar kein Geheimnis daraus, ein Verhältnis zur molligen, sinnlichen Myrtle zu unterhalten, der Gattin des Automechanikers und Tankstellenbetreibers George B. Wilson.
In einem Salon des Plaza Hotels in New York macht der eifersüchtige Tom seinem Nebenbuhler eine Szene, der wiederum von Daisy eine finale Entscheidung erwartet. Als die reichlich alkoholisierte Gesellschaft nach Long Island zurückkehrt, kommt es vor Wilsons Tankstelle zu einem folgenreichen Verkehrsunfall: Myrtle, von ihrem Gatten eingesperrt bis zur beabsichtigten Abreise in den Westen, kann sich befreien und läuft hilfesuchend auf das ihr bekannte Auto zu. An dessen Steuer freilich nicht ihr Geliebter sitzt, sondern Daisy: Eine hochdramatische Szene, inszeniert nur mit optischen und akustischen Mitteln.
In der Romanvorlage bei Seite 170 (Diogenes-Ausgabe) angekommen, haben die beiden Bearbeiter, die Dramaturgin Angela Obst und der Dramaturgieassistent Marvin L. T. Müller, den Rotstift nicht mehr aus der Hand genommen. Wurde die Wilson-Episode nur aus dem Off erzählt, sind die letzten vierzig Seiten ganz gestrichen in der Hoffnung, dass es niemand merkt. Was bei einigen Kritikern ja auch geklappt hat. Dabei macht die spektakuläre Unfallszene gar keinen Sinn, wenn der blutige Schluss unterschlagen wird: Weil George Wilson den „Mord“ an seiner Gattin rächen will, erschießt er Gatsby in dessen Pool, nachdem Tom ihm verraten hat, wer der Besitzer des gelben „Todeswagen“ ist – aber nicht, wer am Steuer gesessen hat. Und schon gar nicht, dass er Myrtles Liebhaber gewesen ist.
In der noblen, ganz in unschuldigem Weiß gehaltenen Ausstattung von Sophia Profanter (Bühne) und Tanja Maderner (Kostüme) agiert ein gegen den Strich des Lektüre-Eindrucks besetztes Kammerspiel-Ensemble, das durchaus eigene Akzente setzt. Vor allem: Alexander Wertmann schlüpft nicht in die Rolle des Erzählers, der Schauspiel-Anteil ist in dieser Literaturadaption genreuntypisch hoch. Leider, wenn auch aus höchst erfreulichem Grund, ist das (Liebes-) Paar Guy Clemens/Anna Drexler derzeit gesprengt. Letztere wird ersetzt durch die 1989 in Rotterdam geborene AnStacyian Jackson, auch in der vorerst letzten Aufführung am Sonntag, 18. Dezember 2022, um 19 Uhr in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum. Um 18:30 Uhr beginnt eine Einführung. Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel 0234 – 33 33 55 55.
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- Sonntag, 18. Dezember 2022, um 19 Uhr