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Dennoch nur das Vorletzte

Ich war im Gottesdienst. Seit März zum ersten Mal. Ich hatte meine Bedenken, nicht aus Angst, mich anzustecken, sondern weil ich dachte, dass es kein richtiger Gottesdienst sein könne mit all den derzeitigen Beschränkungen. Ein Gottesdienst ist ja keine Vortragsveranstaltung, eine Art Kommunikationseinbahnstraße, sondern ein Fest, das durch Gemeinschaft und Nähe geprägt ist, durch Geben und Nehmen, durch Hingabe und Empfangen.

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Wie soll das funktionieren: Gottesdienst ohne Abendmahl, ohne gemeinsamen Gesang, ohne den gegenseitigen Friedensgruß, ohne das anschließende Gespräch beim Kirchkaffee? Schließlich ist ein Gottesdienst keine Versammlung von Kühlschränken (Er sollte es zumindest nicht sein)!

Aber ich war angenehm überrascht. Nicht, dass die Corona-Schutzmaßnahmen vernachlässigt wurden; im Gegenteil, es war alles ordentlich geregelt, fast zu ordentlich: deutliche Hinweisschilder mit Verhaltensregeln, Eintrag in eine Besucherliste, Hygiene-Türme am Eingang und am Ausgang, Sitzplatzmarkierungen für genügend Abstand und rot-weiß gestreifte Absperrbänder an den Bänken zum Mittelgang, damit man sich bloß nicht beim Verlassen der Kirche in die Quere kam.

Allerdings fand ich diese Absperrbänder ein bisschen übertrieben und nicht wirklich stilvoll; denn Kirchenbänke sind alles andere als unfallträchtige Baustellen. Außerdem kann man sich sowieso kaum zu nahe und in die Quere kommen, wenn die meisten von denen, die normalerweise den Gottesdienst besuchen, aus Vorsicht immer noch lieber zuhause bleiben. Ich hatte jedenfalls vier bis fünf Meter Abstand zur nächsten Person.

Aber genau das überraschte mich: Trotz dieser Maßnahmen fühlte ich mich wohl und noch mehr als das - irgendwie angenommen.

Ich vermute, das hat zwei Gründe. Der erste: Ich war einfach nur Empfangender. Ich kann und muss nichts leisten. Eigentlich gilt das für jeden Gottesdienst. Aber jetzt wurde es mir noch einmal besonders deutlich (auch deshalb, weil ich per Anordnung kaum etwas tun durfte). Ich konnte nur still in meiner Bank sitzen und mit meinen Ohren und meinem Herzen hören. Die Lieder, die die Gemeinde sonst gesungen hätte, wurden von zwei jungen Frauen vorgetragen, die Texte konnten im Gesangbuch mitgelesen werden. Dazu gab es noch besondere Vortragslieder. In der Predigt, die nicht Corona zum Thema hatte (zum Glück!), waren Gedanken für mich, die noch nach dem Sonntag präsent waren, Gedanken zwischen Anspruch und Zuspruch. Was will man mehr! Ich hatte das Gefühl, hier kann ich einfach sein, so wie ich bin.

Und ich wusste: Wenn ich diesen Raum verlasse, werde ich wieder gefordert, fragt und greift man nach mir.

Der zweite Grund: Es ging mir ein Licht über Corona auf, so deutlich wie nie in den Wochen vorher. In diesen Tagen stellen wir fest, wie schwach und anfällig wir trotz allen sogenannten Fortschrittes sind, dass wir eigentlich nichts und schon gar nicht unser eigenes Leben in der Hand haben. Ein kleines Virus, der unsichtbare Vorbote unserer Vergänglichkeit, stellt die Welt auf den Kopf und stößt uns auf das, das wir beständig verdrängen: Meine Zeit hier ist begrenzt, und morgen kann Schluss sein, auch ohne Corona. Aber in diesem Gottesdienst in diesem besonderen sakralen Raum hat Corona für mich seinen wirklich Platz zugewiesen bekommen.

Dort, angesichts des Höchsten, der A und O, Anfang und Ende ist, angesichts der Ewigkeit und des Letztgültigen wird Corona auf die Stufe des absolut Vorletzten verwiesen, das selbst unter dem Zeichen des Vergänglichkeit steht.

Dieses Wissen schenkt mir eine innere Freiheit - trotz vieler Beschränkungen in dieser Zeit. Es ist eine Freiheit zu einem verantwortungsvollen Handeln, das heute mehr denn je gefragt ist, vor allem in meinem nächsten Umfeld. Diese innere Freiheit ist alles andere als ein rührseliges Gefühl.

Vielleicht wäre es einen Versuch wert, einfach einmal diesen besonderen Raum zu betreten, auch wenn es äußerst ungewohnt sein sollte. Es muss ja nicht gleich ein Gottesdienst sein, viele Kirchen sind auch mitten in der Woche geöffnet. Es könnte dort aber etwas passieren, was draußen vor der Tür so nicht passiert, nicht an der Kasse beim Discounter, nicht in der Straßenbahn, nicht in der Stammkneipe: eben das Geschenk dieser inneren Freiheit, zumindest einer Ahnung davon -und das wäre auch schon etwas!

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Die Plätze in der Kirche, auf die man sich setzen durfte, waren übrigens deutlich durch ein gelbes Blatt Papier mit einem einzigen Satz markiert. Vielleicht reicht der zur Erklärung.

| Quelle: Hans-Jürgen Jaworski