
Melodram erinnert an Fassbinder
'Bis ans Ende der Nacht'
„Du bist nicht draußen, deine Zelle ist nur etwas größer“ spricht der verdeckte Ermittler Robert Demant (Timocin Ziegler) Klartext und zeichnet auf dem Frankfurter Stadtplan den Radius auf, in dem sich sein Gegenüber mit elektronischer Fußfessel bewegen kann. Der Kriminalhauptkommissar hat die Transfrau Leni Malinowski (Thea Ehre) aus dem Knast geholt, für die in Windeseile eine Wohnung hergerichtet wird, damit er sich als ihr Partner ins Milieu des Online-Drogenhandels einschleusen kann, bei dem inzwischen monatlich zwischen drei und fünf Millionen Euro umgesetzt werden. Im Fokus der Fahnder ist der Großdealer Victor Arth (Michael Sideris), ein ehemaliger DJ und Musikproduzent, der jetzt als Geldwaschanlage den Club „Midnite“ betreibt.
Leni hat früher, als Lenard, für Victor gearbeitet, weshalb sich der schon bei der alkoholreichen Einweihungsfete der neuen Bleibe mit der alten Szene-Community seiner „Freundin“ genervte Robert überhaupt auf die Undercover-Aktion eingelassen hat. Und sich gefährlich kratzbürstig gibt in den Augen der „Nachbarin“ Nadia Saric (Aenne Schwarz), die sehnsüchtige Blicke auf ihren Kollegen wirft. Zur naturgemäß rein zufälligen ersten Kontaktaufnahme dient ein Tanzkurs, den Victor mit der Mode-Verkäuferin Nicole Gilly (Ioana Iacob) besucht – als Paar-Therapie. Der Plan geht leichter auf als gedacht: beide Paare freunden sich an, Robert wird Victors Fahrer und Vertrauter. Als die Nagelprobe, eine nächtliche Polizeikontrolle, überstanden ist, scheint der weiteren erfolgreichen Entwicklung nichts mehr im Weg zu stehen.

Doch für den homosexuellen Robert, der sich gegenüber Leni so schroff gibt, dass Nadia schlichten muss, wird die Geschichte mit Leni kompliziert, da er für sie – als Mann Lenard, der sie früher war – immer stärkere echte Gefühle hegt und plötzlich auch sehr zärtlich sein kann. Folglich ist er nicht daran interessiert ist, dass Leni ihre operative Geschlechtsumwandlung vorantreibt. Es ist ausgerechnet Victor, der Robert dazu bringt, sich seinen widersprechenden Liebesgefühlen zu stellen. Leni erwartet, frei zu kommen, wenn mit ihrer Hilfe Victor und seinen Leuten der Prozess gemacht werden kann, obwohl ihr Roberts Chefin Monika Sterz (Rosa Enskat) nur Hafterleichterungen versprochen hat.
Sie will Sängerin werden, probt bei „Nachbarin“ Nadia. Und schreckt nicht davor zurück, Robert bei Victor zu enttarnen. Als ein Polizeieinsatz gegen eine rivalisierende Drogenbande missglückt, wird Robert dennoch von seinen „Boss“ Victor, der dabei drauf geht, aus brenzliger Situation befreit. Er verabredet sich mit Leni um 6 Uhr in der Frühe am Flughafen Frankfurt – und wird von seiner Chefin verhaftet: „Ich bin nicht so der Typ für Happy End“. Leni, die ihn ein zweites Mal verraten hat, kontert direkt in Reinhold Vorschneiders Kamera: „Aber ich!“
„Bis ans Ende der Nacht“, am 24. Februar 2023 im Wettbewerb der 73. Berlinale uraufgeführt, will binnen gut zwei Stunden alles sein: Film Noir, Liebesgeschichte, Action-Thriller, Melodram im Transsexuellen-Milieu. Zumindest Letzteres ist Christoph Hochhäusler gelungen, und wenn man sich dabei an Rainer Werner Fassbinder erinnert, spricht das nur für den Berliner Regisseur von „Milchwald“ über „Falscher Bekenner“ bis „Der Tod wird kommen“.
Die vor 23 Jahren in Wels geborene Öberösterreicherin Thea Ehre, die beim früheren Dortmunder Intendanten Kay Voges am Wiener Volkstheater spielt, gibt in der Hauptrolle der Leni ein fulminantes, zu Herzen gehendes Kinodebüt. Sie ist auch im wirklichen Leben eine Transfrau und auf der Berlinale völlig zu Recht mit dem Silbernen Bären belohnt worden, warum auch immer als „beste Nebendarstellerin“. Zum Kinostart am 22. Juni 2023 wird „Bis ans Ende der Nacht“ im Metropolis Bochum, im Sweetsixteen Dortmund sowie im Essener Luna im Astra gezeigt.