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In Corona-Zeiten: Die Eltern sind belustigt bis entsetzt über die gezeigten Sexszenen, die irgendwie ins Internet gelangt sind.

Berlinale-Gewinner im Kino

Bad Luck Banging or Loony Porn

„Was ist obszön und wie definieren wir es?“ fragt der rumänische Drehbuchautor und Regisseur Radu Jude, dessen Spielfilmdebüt „The Happiest Girl in the World“ 2009 auf der Berlinale den CICAE-Preis erhielt und sein dritter Langfilm „Aferim!“ 2015 mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde. In seinem jüngsten Streifen „Bad Luck Banging or Loony Porn“, der als bester Film den Hauptpreis Goldener Bär der 71. Berlinale erhielt, gibt er die Antwort: die „sogenannte Obszönität“ im privaten Pornovideo der Lehrerin Emi (Katia Pascariu), das ausschweifenden und offenbar beiderseits als großartig empfundenen Sex mit ihrem Ehemann zeigt, ist „nichts im Vergleich zu dem, was um uns herum geschieht.“

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Rush-Hour an einem heißen Sommertag. Emi streift durch die Straßen der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Besieht sich die Auslagen in einer Markthalle, kauft sich einen BH, betrachtet nachdenklich das Buch „Mein Jesus“ im Schaufenster einer Buchhandlung. Plattenbau-Tristesse und auswechselbare Einkaufszentren, Stress an der Supermarkt-Kasse und mit uneinsichtigen Autofahrern, die mit ihren SUV-Kolossen Bürgersteige zuparken. Diskussionen vor einer Apotheke über die Corona-Pandemie. Eine enorme Lärmkulisse, noch verstärkt durch Baustellen, Krankenwagen und Hupkonzerte. Marius Panduru filmt Wartende an einer Haltestelle durch die Fenster eines vorbeifahrenden Busses: alltägliche Normalität in ungewöhnlichen Perspektiven.

Die Direktorin zeigt das private Pornovideo auf einer Elternversammlung, Leutnant Gheorghescu (Nicodim Ungureanu) schaut genau hin.

Leere Fabriken, abbruchreife Häuserzeilen, offenkundige Armut – die andere Seite einer Metropole, die nun zur Europäischen Union gehört. Der monumentale „Palast des Volkes“ des nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hingerichteten kommunistischen Staatschefs Nicolae Ceaușescu weist auf die Vergangenheit hin, gibt Radu Jude Gelegenheit zu einem historischen Exkurs über die Rolle der rumänischen Armee im 20. Jahrhundert – und die Affinität der orthodoxen Kirche zum Faschismus. Nach einem Ausflug in die Filmgeschichte ist die Ideologisierung der Kindererziehung ein Thema, philosophische Gedanken weichen Bildern von Bestattungen rund um die Uhr in Corona-Zeiten.

Erst im dritten, „Praxis und Anspielungen“ genannten Teil des 106-minütigen Films, der am 8. Juli 2021 bundesweit in den Kinos gestartet ist, geht’s in den Hof der offenbar renommierten Bukarester Schule, in die Akademiker, Politiker und hochrangige Offiziere ihre Kinder schicken. Die Direktorin (Claudia Leremia) ist bemüht, aufgeregte Gemüter konservativer Eltern zu beruhigen. Als sie das von ungeklärter Seite ins Internet gestellte Video vorführt, gibt sich etwa Leutnant Gheorghescu (Nicodim Ungureanu), der in Uniform erschienen ist, zunächst bewusst desinteressiert: demonstrativ isst er eine Banane. Doch die lustvolle Zügellosigkeit der Lehrerin Emi und ihres Gatten lässt bald auch ihn nicht kalt – und die heftigen Wortgefechte von moralisch empört über aggressiv anklagend bis vulgär beleidigend eskalieren rasch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.

Was als Aussprache geplant war, gerät zum Tribunal: Haben die Schüler, die sämtlich das Video gesehen haben, noch Respekt vor der Lehrerin? Bald geht es gar nicht mehr nur um einvernehmlichen Sex unter Ehepartnern, um Pornographie im Netz oder um konträre Bildungstheorien, sondern um die rumänische Geschichte des 20. Jahrhunderts, den Faschismus und die Kollaboration mit den Nazis, den nationalistisch-pervertierten Kommunismus der Nachkriegszeit und ganz allgemein um die fehlende gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit in Rumänien. Die Lehrerin, die sich u.a. mit einem Gedicht von Mihai Eminescu verteidigt, welcher als der bedeutendste rumänische Dichter des 19. Jahrhunderts gilt, wird plötzlich für alles verantwortlich gemacht. Am Ende offeriert uns Radu Jude drei Varianten für einen hier offen bleibenden Schluss…

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Diese „Skizze für einen populären Film“, so der Untertitel der mit dem Goldenen Bären der 71. Berlinale 2021 ausgezeichneten Farce im Stil einer Montage unterschiedlichster (künstlerischer) Bestandteile, wirft einen sehr pessimistischen Blick auf die Demokratie im neuen EU-Mitgliedsland Rumänien. Der einzige Wettbewerbs-Beitrag, der den Alltag in der Corona-Pandemie zumindest am Rande thematisiert, ist eine hochpolitische Komödie, wenn man Bukarest als Chiffre für ein neoliberales, rein konsumorientiertes Europa voller Widersprüche „liest“. „Bad Luck Banging or Loony Porn“ läuft im Bochumer Kino Endstation, im Sweetsixteen Dortmund sowie im Essener Filmstudio Glückauf.

| Quelle: Pitt Herrmann