
Musical am MiR begeistert auch live
Avenue Q - Live
„Die Sonne scheint, es ist ein herrlicher Tag“: Was bei Brian (Sebastian Schiller) eher ironisch klingt, schließlich ist der 32-jährige verkannte Komiker gerade arbeitslos geworden, kommt bei seinem neuen WG-Mitbewohner Princeton (Nicolai Schwab) voller Optimismus ‘rüber: der 20-jährige College-Absolvent ist endlich in New York angekommen, um seine Bestimmung zu suchen. Freilich reicht die väterliche Unterstützung nur für eine Bruchbude in der Avenue Q bei der Therapeutin Christmas Eve (Lanie Sumalinog), so etwas wie die herzliche Mutter des Viertels, und Macaulay Culkin (Merten Schroedter), einem ehemaligen Kinderstar, der sich hier als Hausmeister verdingt – und in Corona-Zeiten jede Menge Amazon-Pakete an die Bewohner verteilen muss…
Ein wenig West Side Story und jede Menge Sesamstraße: Im Zweiakter „Avenue Q“, 2003 im New Yorker Vineyard Theatre uraufgeführt und des Bombenerfolges wegen bald an den Broadway ins Golden Theatre gewechselt, trifft die Muppetshow auf die harte Realität prekärer Wohnverhältnisse und gescheiterter Lebensläufe in einem (fiktiven) Außenbezirk des Big Apple. Ausgezeichnet gleich mit drei Tony Awards als bestes Musical, für das beste Buch (Jeff Whitty) und die beste Komposition (Robert Lopez und Jeff Marx) läuft „Avenue Q“ bis heute nicht nur am Off-Broadway-Theater New World Stages, sondern in der ganzen westlichen Welt. Nach der Deutschsprachigen Erstaufführung am 26. Februar 2011 in St. Gallen und der Deutschen Erstaufführung am 19. April 2012 am Nationaltheater Mannheim auch hierzulande, so auch in Gelsenkirchen.
Die Mischung machts: in genregemäß zuckersüßer Verpackung thematisiert das einschließlich Pause rund zweieinhalbstündige Musical auf eine fröhlich-ironische und dabei bisweilen höchst anzügliche Weise Existenzängste, Armut, Homophobie und Rassismus – 18 Jahre nach der Uraufführung leider immer noch hochaktuell. Und rechnet dabei mit der heilen Welt der Sesamstraße ab, gerade weil ein Großteil der Charaktere durch die Puppen (Birger Laube) verkörpert werden. Nicky (Daniel Jeroma) und Rod (ebenfalls Nicolai Schwab) etwa sehen Ernie und Bert zum Verwechseln ähnlich und Rick Lyons‘ Original-Puppe des sexsüchtigen Trekkie Monster (ebenfalls Daniel Jeroma) ist zweifellos dem Krümelmonster nachempfunden.

„Es kotzt mich so an“: Bald kracht es zwischen Princeton, der einen Bürojob verliert, noch bevor er ihn überhaupt angetreten hat, und Brian, während Nicky sich nicht eingestehen will, schwul zu sein, obwohl Rod das insgeheim nicht nur egal wäre. Die junge Grundschul-Praktikantin Kate (überragend: Charlotte Katzer), deren Beiname „Monster“ für eine wie auch immer geartete Andersartigkeit steht, vergeigt ihre erste eigenständige Unterrichtsstunde. Weil sie sich von zwei im Original mit „Bad Idea Bears“ treffender benannten „Bullshitbären“ im „Around the Clock Cafe“ beim Auftritt der Sängerin Lucy (ebenfalls Charlotte Katzer) mit Alkohol abfüllen ließ. Am genregemäßen Happy end haben nicht nur Christmas Eve und Brian geheiratet, sondern auch Nicky und Rod zueinander gefunden. Auch das mit Princeton und Kate wird schon, hilfreich ist dabei der 10-Millionen-Dollar-Grundstock für Kates Traum einer „Monsterssori-Schule“…
Von „Spiel mir am Glied bis zum Tod“ bis „Ich kanns kaum erwarten ihre Schnecke zu lecken“: Auf solche pubertären Ausreißer hätte Regisseur Carsten Kirchmeier gut verzichten können. Wo er doch schon dankenswerterweise die beiden Songs der „Schlampe“ Lucy im englischen Original beließ, während ansonsten die deutsche Fassung von Dominik Flaschka (Dialoge) und Roman Riklin (Songtexte) aufgeführt wird unter der gewohnt souveränen musikalischen Leitung Heribert Fecklers, der an Klavier und Keyboard hinter den Kulissen eine bestens aufgelegte Band anführt mit Thomas Meyer (Keyboard), Gabriel Perez (Reeds), Mirko van Stiphaut (Gitarre), Gero Gellert (Bass) und Jürgen Peiffer (Schlagzeug).

In der Ausstattung von Beata Kornatowska und der Choreografie von Frank Wöhrmann begeistert ein sechsköpfiges, mit den Puppenspielern Gloria Iberl-Thieme, Marharyta Pshenitsyna und Seth Tietze komplettiertes Ensemble. Aus der insgesamt jungen Besetzung ragen zwei Endzwanziger heraus: Nicolai Schwab war 2015 Förderpreisträger des Bundeswettbewerbs Gesang, bevor er im Jahr darauf sein Musical-Studium in Osnabrück abschloss und gleich ans Theater Hagen verpflichtet wurde, wo er ebenfalls die Rolle des Princeton übernahm. Seither ist er ebenso freiberuflich tätig wie Charlotte Katzer, die als Gießener Medizinstudentin am Theater Wiesbaden ihre Liebe zum Theater entdeckte, zum Musical-Studium nach Essen wechselte und mehrere Jahre am Theater Dortmund engagiert war.
Nachdem „Avenue Q“ in der vergangenen Saison pandemiebedingt nur gestreamt werden konnte, ist das Musical nun seit dem 29. August 2021 live zu erleben am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier. Die weiteren Vorstellungen: 5., 18. und 19. September 2021, 10. Oktober 2021, 27. Januar 2022, 6., 11., 12., 19. und 26. Februar 2022 sowie letztmals am 10. März 2022. Karten unter musiktheater-im-revier-de oder Tel 0209 – 40 97 200.