
Kolumne von Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey
Vorsorgen ist teurer als Sterben
Unlängst ist Dieter Hildebrand gestorben. Er hatte Krebs, Prostatakrebs. Na gut, er war 86 Jahre alt, da darf man sterben. Aber muss es unbedingt an Krebs sein? Zumal an einem Krebs, der, früh erkannt, heilbar ist. Vor allem, wollte er das auch selbst so? Schließlich stirbt es sich nicht so komfortabel am Endstadium des Prostatakarzinoms. Oder hätte er vielleicht doch lieber auf den Schlaganfall oder den Herztod mit 95 gewartet. Übrigens, Rolf Rüssmann war noch keine 60, als er am Prostatakrebs gestorben ist.
Sicher, die meisten betagten Männer mit einem Prostatakrebs sterben mit dem Krebs und nicht an dem Krebs. Ja, und je älter man wird, desto größer ist das Risiko an Komplikationen der Operation zu sterben. Soll man es deshalb einfach abwarten und jegliche Vorsorge unterlassen?
Argumentiert wird in der Regel mit dem Argument, dass eine Vorsorge keine statistische Zunahme der Lebenserwartung bedingt oder dass die Wahrscheinlichkeit, einen bösartigen Tumor zu entdecken, zu gering sei. Dabei kann man nicht alles mit Statistik beweisen. Auch der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft ist statistisch nicht signifikant. Trotzdem glaubt niemand mehr an den Klapperstorch und zweifelt den Sinn von Verhütungsmaßnahmen an.
Wenn man der Außendarstellung der Krankenkassen glauben schenkt, sind alle Ärzte, die zur Prostata-Vorsorge raten, geldgierige Beutelschneider. Danach sind es dann die Krankenkassen, die als Wächter der medizinischen Moral fungieren und nichts als das Wohlergehen der Patienten im Sinn haben.
Machen wir uns nichts vor: Eine Krankenkasse ist eine Versicherung und als solche versucht sie, von den eingenommenen Geldern so wenig wie möglich wieder auszugeben. Das ist auch richtig so, denn sie ist eine besondere Versicherung: Sie ist eine Pflichtversicherung, ihre Aufgaben sind gesetzlich festgelegt. Die Krankenkasse ist nach dem Gesetz jedoch keine Vorsorgekasse. Deshalb muss sie auch nicht jede Vorsorgemaßnahme bezahlen, auch keine Empfängnisverhütung. Sie kann sich auf die Vorsorgeuntersuchungen beschränken, die sich für die Krankenkasse lohnen, mit denen sie unter dem Strich also Geld einspart.
Vorsorgen ist für den Patienten sicher besser als heilen. Es ist jedoch ein weit verbreiteter Irrtum, dass Vorsorgen für die Krankenkasse auch billiger sei als Heilen oder, schlimmstenfalls, als Sterben.
Die meisten Vorsorgemaßnahmen erfolgen nämlich als so genannte Screening-Untersuchungen. Das bedeutet, man spannt ein sehr dichtes Netz auf, in dem sich jeder Verdachtsfall verfangen soll. Zwar stellt sich der überwiegende Teil dieser Verdachtsfälle bei den weiterführenden Untersuchungen als blinder Alarm heraus, abgeklärt werden müssen sie dennoch. Die Vorsorgemaßnahmen müssen also sehr empfindlich sein. Die Treffsicherheit ist zunächst nicht so wichtig.
Darin liegt nun das Dilemma der Krankenkassen. Wird nämlich ein begründeter Verdacht erhoben, werden sie zahlungspflichtig, egal, ob die Vorsorgemaßnahme zu ihrem Leistungsspektrum zählt oder ob diese privat bezahlt werden muss. Das bedeutet, je mehr Menschen sich einer privaten Vorsorge unterziehen, desto häufiger muss die Krankenkasse für die Abklärung eines Verdachts aufkommen. Auch wenn eine massenhafte Screening-Untersuchung als solche noch relativ billig sein sollte, gehen die weiterführenden Untersuchungen doch gehörig ins Geld. Das kann die Kosten der Behandlung einer Tumorerkrankung und des Sterbens daran erheblich übersteigen.
So erklärt es sich also, wenn die Krankenkassen die Vorsorgemedizin mit ganz spitzen Fingern anfassen.
Z. B. erfolgte früher die Darmkrebsvorsorge nur durch einen Stuhltest auf verborgenes Blut. Ab 40 hatte man Anspruch auf diesen Test. Dann zeigte es sich, dass eine Coloskopie mit 55 Jahren und noch einmal 10 Jahre später unterm Strich geringere Kosten verursachte als das jährliche Stuhlscreening. Dafür wurde der Anspruch auf einen Stuhltest zur Vorsorge auf 50 Jahre hoch gesetzt obwohl Darmkrebs vor dem 50. Lebensjahr keineswegs zu den medizinischen Raritäten zählt. Es ist also durchaus keine diagnostische Spielerei, ggf. auf eigene Kosten diese Untersuchung durchführen zu lassen, zumal sie mit ca. 5 – 10 Euro/Jahr selbst Hartz IV-Empfänger nicht überfordern dürfte.
Gleichwohl sollte man auch bei den Vorsorgeuntersuchungen einen kritischen Verstand walten lassen. Insbesondere sollten Vorsorgeuntersuchungen, die mit einer nicht unerheblichen körperlichen Belastung verbunden sind, abhängig gemacht werden vom Allgemeinzustand des Patienten. So ist bei herzgesunden und fitten 75-Jährigen eine Vorsorge-Coloskopie problemlos möglich. 60-Jährige mit mehreren Herzinfarkten, Übergewicht und Diabetes sollten statt einer Coloskopie, die nur zur Vorsorge erfolgt, sicher andere Maßnahmen bevorzugen.
Nicht akzeptabel ist für mich die grundsätzliche Diskreditierung einer Vorsorgemaßnahme, die von der Krankenkasse nicht bezahlt wird, als Unsinn und Abzocke. Auch ist die statistische geringe Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Tumor zu sterben, für die einzelne Person kein Argument. Sie hat, wenn sie betroffen ist, diesen Tumor zu 100 Prozent und muss damit leben und ggf. auch sterben, obwohl eine Früherkennung die fatalen Folgen in vielen Fällen verhindern könnte. Es ist eben keineswegs so, dass nur das, was die GKV bezahlt, auch medizinisch sinnvoll ist. Bei der Gestaltung des Leistungsspektrums einer Krankenkasse ist die Rechtslage und die Kostenkalkulation maßgeblich, das Patienteninteresse spielt da nur eine untergeordnete Rolle.
Grundsätzlich gestehe ich den Krankenkassen das Recht zu, ihren Leistungskatalog zu begrenzen. Das sollten sie ehrlich und mit Anstand begründen. Sie sollten aber nicht mit fragwürdigen Interpretationen von Statistiken die Versicherten hinters Licht führen, sondern ihnen selbst die Entscheidung überlassen, ob sie Vorsorge betreiben wollen oder nicht. Sie sollten außerdem nicht diejenigen, die in diesem Gesundheitssystem ihren Lebensunterhalt auch mit Dienstleistungen verdienen, die von der Krankenkasse nicht bezahlt werden, als Abzocker verunglimpfen. Die Seriosität der Krankenkassen ist nicht besser als die der Ärzte.