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Alexander Ritter und Lea Kallmeier als Zwillingsgeschwister, die in Kriegszeiten in fremder Umgebung bei einer gehässigen Großmutter ums Überleben kämpfen. Foto:

Agota Kristófs „Das große Heft“ zweimal in Bochum

Rottstr 5 Theater hat die Nase vorn

In blutrotes Neonlicht gehüllt zeigt das horizontale Leporello des Ausstatters Michael Habelitz ein Konglomerat aus Häusern, eine Villa mit Garten und Strommasten in der weiten Landschaft, die rechts von einem Wald begrenzt wird. Auch sind Wachtürme zu erkennen. Lea Kallmeier und Alexander Ritter blicken, kurzbehost in Gummistiefeln steckend, lange stumm ins Publikum. Das sich so auf die immer wieder auch chorische Erzählung der Zwillingsbrüder konzentrieren kann, deren Aufwachsen geprägt ist vom Überleben im Krieg.

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Ihr Vater ist seit sechs Monaten an der Front. Weil ihre Heimatstadt bombardiert und die Versorgungslage immer schlechter wird, sind sie zur Großmutter aufs Land geschickt worden, die sie nicht gerade herzlich empfängt: „Auch hier ist das Leben nicht umsonst.“ Die auf sich allein gestellten Brüder lernen schnell, eigene (Moral-) Vorstellungen vom Leben zu entwickeln und sich gegen die Zumutungen des Alltags zu stählen – auch körperlich. Denn: „Dach und Nahrung müssen verdient werden.“

Absolute Selbstkontrolle

Vor dem Hintergrund des horizontalen Leporellos des Ausstatters Michael Habelitz überzeugen Alexander Ritter und Lea Kallmeier mit körperbetontem Spiel.

Die beiden tragen alle Beobachtungen und Erlebnisse tagebuchartig in ein großes Heft ein, das sie sich mangels eigener Mittel von der Schreibwarenhändlerin erbetteln. So lebt angeblich ein fremder Offizier mit im Haus, ist aber nie da. Sie bemühen sich bei ihren zunächst sehr kindlich-naiv anmutenden Aufzeichnungen um eine präzise Sprache und eine sachliche, persönliche Gefühle ausklammernde Beschreibung der Dinge.

Die auf absolute Selbstkontrolle hintrainierenden Brüder werden schneller erwachsen als es ihrer Psyche guttut, werden Opfer sexueller Gewalt und üben selbst, zunächst an Tieren, Gewalt aus. Die Wachtürme gehören zu einem Konzentrationslager – und der nunmehr übergriffige Offizier zu diesem. Als der Krieg zu Ende geht, kommen die beiden in Kontakt mit fremdsprachigen Besatzungssoldaten und hoffen, ihren Vater wiederzusehen…

Realität, Fiktion und Lüge

In ihrem Debutroman „Das große Heft“ aus dem Jahr 1987 erzählt die preisgekrönte Schriftstellerin Agota Kristóf die Lebensgeschichte zweier Brüder, bei der Realität, Fiktion und Lüge nah beieinander liegen. Mit schlichter, klarer Sprache protokolliert sie dabei ergreifend und ungeschönt eine Kindheit, die nichts Idyllisches hat. Eine schonungslose, doch niemals moralische Geschichte über die Selbstermächtigung zweier Kinder, die auf erstaunlich mutige Weise ums Überleben kämpfen. Und zugleich ein Anti-Kriegs-Roman, der die Verrohung und Verletzung der Menschen offenbart.

Martina van Boxen, jahrelange Leiterin des Jungen Schauspielhauses Bochum, hat „Le grand cahier“ für die Bühne adaptiert und führt zum ersten Mal am Rottstr 5 Theater Bochum Regie. Für sie steht inhaltlich die Entwicklung der Zwillinge im Zentrum: „Zwei Kinder die, durch den Ausbruch des Krieges, in eine grausame Welt geworfen werden und dort ums Überleben kämpfen. Die sich jegliches Schmerzempfinden abtrainieren. Sowohl körperlich, als auch psychisch. Die sich Weichheit, Zärtlichkeit und Zuneigung verbieten. Was macht das mit Menschen? Wohin führt das?“

Eigenwilliger Gerechtigkeitssinn

Dass die beiden Kinder in dieser verrohten Umgebung, in der sie leben müssen, trotz allem einen sehr eigenwilligen Gerechtigkeitssinn entwickeln, ist für Martina van Boxen besonders interessant. Ihre höchst abwechslungsreiche, in Teilen geradezu choreographische Inszenierung (die Härte der Vorlage wird gezeigt, aber mit dezidiert theatralischen Mitteln) sorgt über neunzig Minuten für Hochspannung. Unterstützt durch Bässe, die in Kopf und Bauch gehen (Musik: Manuel Loos) und eine Lichtregie, die in der intimen Spielstätte der Eisenbahnbögen am Rand des Bochumer Bermuda-Dreiecks eine bedrohliche Atmosphäre schafft.

Mit Ovationen gefeiert die beiden Protagonisten, der Schauspieler und Co-Leiter des Rottstr 5 Theaters, Alexander Ritter („Fight Club“), und die Schauspielerin und Physical Theatre-Performerin Lea Kallmeier („Die Wand“, „Schöne neue Welt“). Für beide bis hin zu artistischen Einlagen in einer Kneipen-Szene sehr körperlich agierenden Darsteller ist es nach „Törless“ und „Der geheimnisvolle Fremde“ am Schauspielhaus Bochum nicht die erste Arbeit mit der Regisseurin Martina van Boxen.

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Nächste Vorstellung am 17. Oktober 2025

„Das große Heft“ („Le grand cahier“), 1986 als erster Band einer Trilogie („Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“) von Agota Kristóf erschienen und 1987 mit dem Preis des Europäischen Buches ausgezeichnet, wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und 2013 vom ungarischen Regisseur János Szász verfilmt. Es hat mehrfach Theateradaptionen des Romans gegeben, die nächste kommt am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Jette Steckel am 1. November 2025 heraus. Die nächste Aufführung an der Rottstraße ist am Freitag, 17. Oktober 2025, um 19:30 Uhr. Karten unter rottstr.de oder Tel 0163 / 7615071.

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  • Freitag, 17. Oktober 2025, um 19:30 Uhr
November
1
Samstag
Samstag, 1. November 2025, um 19:30 Uhr Schauspielhaus Bochum, Königsallee 15, 44789 Bochum Karten für das Schauspielhaus gibt es hier: www.ticketonline.de
Mittwoch, 15. Oktober 2025 | Autor: Pitt Herrmann