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Tanz-Doppelabend am MiR: „Aurora“ begeistert mit geradezu artistischen Ensemble-Choreographien.

Tanz-Doppelabend „Aurora“ am MiR

Prinzip Hoffnung

Aurora, der englische Name der Disney-Prinzessin Dornröschen, schläft hundert Jahre hinter undurchdringlichen Dornenhecken, bis ein Prinz sie wachküsst. Sie heiraten und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. So geht das wohl nur im Märchen – oder vielleicht auch mit der DatingApp? Zugleich ist Aurora, ursprünglich die lateinische Bezeichnung der Morgenröte, bei den Römern der Name der griechischen Göttin Eos. Zu Beginn eines neuen Tages kommen junge Leute zusammen. Sie begeben sich auf die Suche nach einem Miteinander ohne feste Hierarchien. Am Samstag (29. 10.2022) feierte „Aurora“, die zweigeteilte, mit stehenden Ovationen gefeierte gut einhundertminütige Produktion der MiR Dance Company zum Spielzeitthema Hoffnung mit zwei Choreografien von Giuseppe Spota und Roser López Espinosa Uraufführungs-Premiere im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier.

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It’s a Match

Dornröschen im gläsernen Sarg, von Verfolger-Scheinwerfern in den Lichtkegel genommen wie russische Flugzeuge derzeit über dem Kiewer Luftraum. Wir sollen die Augen schließen, sagt eine sonore Stimme aus dem Off. Den Beginn des „Sleeping Beauty“-Podcasts aus der populären Honeybee-Serie englischsprachiger Gute-Nacht-Geschichten, die der Choreographie völlig überflüssiger Weise unterlegt ist neben vollendetem Wohlklang der „Dornröschen-Suite“ Peter I. Tschaikowskis, haben wir schlichtweg negiert und uns ganz auf die in ihrer kraftstrotzenden Männlichkeit skurril wirkende Selbstdarstellung der drei männlichen Bewerber konzentriert, kontrastiert von den fließend-harmonischen Bewegungen der einzigen Frau. Alle Soli gründen sich auf User-Profile der Dating-Plattform Tinder, welche die Tänzer in Körperbewegungen umgesetzt haben.

Tanz-Doppelabend am MiR: „It’s a Match“ mit (v.l.) Yu-Chi Chen, Dex van ter Meij, Holly Brennan als Aurora und Konstantina Chatzistavrou.

Im ersten Teil des Doppelabends fragt Giuseppe Spota, der Direktor der MiR Dance Company, unter dem Titel „It’s a Match“, was es bedeuten könnte, nach hundert Jahren in einer völlig veränderten Welt aufzuwachen. Und danach, welcher Prinz dann die Prinzessin (Holly Brennan) aus ihrem gläsernen Käfig befreien würde? Letztere Frage entscheidet das Publikum bereits vorab durch Fingerhütchen-Voting im hierfür freilich arg engen Foyer des Kleinen Hauses auf der Grundlage von Selfies der vier Kandidaten Klelia (Konstantina Chatzistavrou), A.I.C.I. (Yu-Chi Chen), Finn van Meij (Dex van ter Meij) und Poy (Ingwoong Ryu). Je nachdem wie die Entscheidung ausfällt, am Premierenabend war Dex van ter Meij der Auserwählte, ist dann auch das Stück jedes Mal ein etwas anderes.

Aurora

Beinahe unbemerkt bevölkern immer mehr Tänzer die nebelschwangere Bühne. Was auch an den Kostümen ohne farbliche Akzente liegt. Zur harten Rhythmik der Originalmusik von Mark Drillich, die, als kleine Referenz an den ersten Teil des auch durch seine Vielfalt faszinierenden Doppelabends, zeitweise aus an der Rampe abgelegten Handys kommt, bildet sich eine Gemeinschaft. Ihre verblüffend synchrone Harmonie bei aller differenzierten Individualität erinnert an die durch Strömungen bewegte Unterwasserwelt der Korallenriffs.

Die „Guys“ haben, in stets rasant wechselnden Zweier- und Dreier-Formationen, ganz offenbar Spaß an dem gruppendynamischen Mit- und Gegeneinander. Es bilden sich keine festen Hierarchien, aber immer wieder kommt es zu Nobilitierungen Einzelner in geradezu atemberaubenden akrobatischen Formationen: Marie-Louise Hertog, Einav Kringel oder Chiara Rontini werden ohne Netz und doppelten Boden durch die Luft gewirbelt. Das schönste Hoffnungs-Bild am Schluss: der (beinahe) nackte Joonatan Zaban entspringt einem Knäuel Leiber, lernt mühsam, seine Extremitäten zu benutzen, damit er nicht nur im übertragenen Sinn auf eigenen Beinen stehen kann. Schließlich wird er von der Gemeinschaft eingekleidet – und damit aufgenommen.

Die spanische Choreografin Roser López Espinosa erkundet auch in dieser Choreografie, die dem Doppelabend den Namen verlieh, die physischen Grenzen des menschlichen Körpers und seiner Möglichkeiten. Mit waghalsigen Akrobatik-Elementen erweitert sie die Vorstellung von modernem Tanz: Würfe, Balancen, Hebungen und Sprünge erinnern an Parcour, Neuer Zirkus und Sportgymnastik. In „Aurora“ zeigt sie eine Gruppe von Menschen auf dem Weg zu einer kollaborativen, empathischen Gemeinschaft, die ohne feste Zuordnungen und Zwänge existiert.

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Karten an der Theaterkasse am Kennedyplatz in Gelsenkirchen (Montag und Samstag 10 bis 14 Uhr, Dienstag bis Freitag 10 bis 18.30 Uhr), im Netz unter musiktheater-im-revier oder unter Tel 0209 – 40 97 200.

Die weiteren Aufführungen im Kleinen Haus des MiR

Vergangene Termine (6) anzeigen...
  • Sonntag, 6. November 2022, um 18 Uhr
  • Sonntag, 13. November 2022, um 16 Uhr
  • Samstag, 19. November 2022, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 2. Dezember 2022, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 9. Dezember 2022, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 17. Dezember 2022, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann