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Peter Handkes - Selbstbezichtigung. Inmitten ihrer Bühnenerfolge: Stefanie Reinsperger.

Berliner Ensemble bei den Ruhrfestspielen

Peter Handkes „Selbstbezichtigung“

„Ich bin geboren worden. Ich bin in das Geburtenregister eingetragen worden. Ich bin älter geworden“: Eine Frau, die gerade noch auf Socken und im Bademantel aus ihrer Künstlergarderobe kommend in den Parkettreihen des Kleinen Theaters am Berliner Ensemble Apfelschnitze verteilt hat, liegt nun bis auf die Unterhose nackt mit dem Rücken zum Publikum auf und vor einer weißen, glücklicherweise gepolsterten Spielfläche.

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Zu beiden Seiten merkwürdige Apparaturen, die sich später als Projektoren herausstellen, welche Bilder aus der Kindheit und Jugend der Schauspielerin Stefanie Reinsperger auf die Rückwand werfen. Die 1988 in Baden bei Wien geborene Absolventin des Max Reinhardt Seminars, die schon früh ans Burgtheater engagiert wurde, bevor sie ans ungleich engagiertere und politisch regere Volkstheater wechselte, hat sich als Mitglied im neuen Berliner Ensemble des Peymann-Nachfolgers Oliver Reese mit einem Solo vorgestellt, dass sie an der Donau rasch zur Kultfigur hat werden lassen. Noch verstärkt durch ihren Auftritt in David Schalkos austriakisch-schwarzer ORF-Serie „Braunschlag“, die bei uns ganz piefkemäßig im TV-Nachtprogramm versteckt worden ist.

Peter Handkes - Selbstbezichtigung. Totale Entäußerung: Stefanie Reinsperger.

„Ich bin mündig geworden. Ich bin handlungsfähig geworden. Ich bin vertragsfähig geworden. Ich bin eines letzten Willens fähig geworden“: Nach der Geburt, so der damalige Grazer Jurastudent Peter Handke in seinen 1965/66 entstandenen Sprechstücken, hat sich der Mensch einem ganzen Kanon bürokratischer Vorschriften zu unterwerfen, ob er will oder nicht. Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare! Stefanie Reinsperger zeigt sich widerständig, manches geht ihr nur durch sehr gepresste Lippen. Weil sie erkennt: „Ich bin zu meiner Geschichte gekommen“ - und meint: wie die Jungfrau zum Kind.

„Ich bin eine Aneinanderreihung von Buchstaben gewesen“: In der „Bücherecke“ des österreichischen Hörfunks ORF hatte der Autor am 29. November 1965 erstmals ein breiteres Publikum mit seiner u.a. von Bertolt Brecht beeinflussten, sich aber auch kritisch mit ihm auseinandersetzenden Dramaturgie bekannt gemacht: „Das moderne Drama besteht aus Ausbruchsversuchen. (...) Das moderne Drama möchte das Theater nicht zu einer eigenen Welt machen, die verschieden ist von der Welt der Zuschauer; das Theater soll wieder ein Teil der Welt der Zuschauer werden.“

Seine beiden Hauptthesen damals lauteten: Die Dramaturgie des Theaters soll als theatralische bewusst gemacht werden, also weg vom Illusionstheater, das die Bühne als Welt darstellt. Und: Das Verhältnis von Zuschauer und Bühne soll verändert, der Zuschauer ins theatralische Geschehen einbezogen werden. Zu den Sprechstücken gehören sein dramatischer Durchbruch Publikumsbeschimpfung ebenso wie das Komplementärstück Selbstbezichtigung für einen Sprecher und eine Sprecherin, uraufgeführt am 22. Oktober 1966 in einer Inszenierung von Günther Büch an den Städtischen Bühnen Oberhausen.

„Ich bin geworden. Ich bin verantwortlich geworden. Ich bin schuldig geworden“: Eine in ihrer Nacktheit auch innerlich entblößte Stefanie Reinsperger klagt sich der Komplizenschaft mit dem System an: „Ich habe zu sollen gelernt.“ Zum weißen Oberhemd kommen nach und nach Weste, Hose und Sakko in dunklem Nadelstreifen hinzu: „Ich bin gesellschaftsfähig geworden.“ Kein Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen: das bürgerlich-klassische Schlaflied von Johannes Brahms Guten Abend, gut' Nacht kommt ihr nur arg verfremdet über die Lippen.

„Ich habe für meine Geschichte büßen müssen. Ich habe für meine Vergangenheit büßen müssen. Ich habe für die Vergangenheit büßen müssen. Ich habe für meine Zeit büßen müssen“: Stefanie Reinsperger trägt ihre Emotionen nach außen, entäußert sich nicht mehr im hüllenlosen Äußeren, sondern in ihren (selbst-) anklagenden Äußerungen. Die natürlich auf das zeitweise unter vollem Saallicht sitzende, später von der Schauspielerin mit einer Taschenlampe mehr oder minder gezielt geblendete Publikum abzielen. Da kann der Wiener Journalist Roland Koberg im Programmheft noch so viele Nebelkerzen werfen. „Ich habe gespielt. Ich habe falsch gespielt“: die Schauspielerin Stefanie Reinsperger blickt mit eruptiver Wut bis hin zur angedeuteten gutkatholischen Selbstgeißelung auf ihr überaus erfolgreiches, mit dem Titel „Schaupielerin des Jahres“ gewürdigtes Dasein auf den Wiener Brettern zurück, auf ihre Rollen in „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz oder „Nora hoch drei“ von Elfriede Jelinek. Unterstrichen von entsprechenden auf die Rückwand projizierten Szenenausschnitten.

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Das multimediale Spektakel gibt theatralisch eine Menge her. Vor der Souffleuse Christine Schönfeld, mit dem Rücken zum Parkett hockend singt Stefanie Reinsperger nach einer wie im Fluge vergangenen Stunde „I'm perfectly incomplete“. Alles nur Theater! Und zwar grandioses, an der Donau wie jetzt an der Spree mit Ovationen gefeiertes. Ein Erfolg, an dem auch der Regisseur Dusan David Parízek seinen Anteil hat. Am Prager Kammertheater, das er viele Jahre leitete, hat er mehrere Werke von Peter Handke zur tschechischen Erstaufführung gebracht, darunter Die Stunde da wir nichts voneinander wussten, Untertagblues und Publikumsbeschimpfung. Mit Selbstbezichtigung gastiert das Berliner Ensemble bei den Ruhrfestspielen 2020 in Recklinghausen: Unbedingt eine Karte sichern!

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  • Montag, 1. Juni 2020, von 18 bis 19 Uhr
  • Dienstag, 2. Juni 2020, von 18 bis 19 Uhr
| Quelle: Pitt Herrmann