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Gina Haller vor einem beim Aufstand in Santiago de Chile gestürzten Denkmal.

Spektakuläres Solo in Bochum

Noise. Das Rauschen der Menge

Geräusche vor allem technischer Art kommen aus dem Off, die Bühne ist von teil-transparenten Folien verhangen. „Da ist kein Licht, Doktor“ lässt sich linkerhand Gina Haller vernehmen, Baselerin des Jahrgangs 1987, Nachwuchsschauspielerin des Jahres 2020 bei der „Theater heute“-Kritikerumfrage und 2021 Berliner Kunstpreis-Trägerin in der Sektion Darstellende Kunst: Eine chilenische Demonstrantin bangt um ihr Sehvermögen. Ortswechsel. Ein sonst als Drogen-Schnüffler eingesetzter Hund hat den Herzschlag eines Kindes unter Beiruter Trümmern wahrgenommen und damit dessen Leben gerettet.

Es gilt von einem Theaterereignis zu berichten, dass schon im Sommer 2021 und damit kurz vor Spielzeitende umjubelte Uraufführung in den Bochumer Kammerspielen feierte und nun wieder auf dem Spielplan steht, bei dem es sich im Grunde um ein inszeniertes Hörspiel handelt: „Noise. Das Rauschen der Menge“. Vordergründig geht es um einen politischen Aufstand, den die 1980 in Santiago de Chile geborene Theaterautorin, Regisseurin, Drehbuchautorin und Musikerin Manuela Infante zum Anlass einer Stimmencollage machte. Sie gewann 2019 mit ihrem Stück „Estado Vegetal“, in dem sie sich am Beispiel von Pflanzen kritisch mit gegenwärtigen Gesellschaftssystemen auseinandergesetzt hat, den Werkauftrag des Stückemarkts des Berliner Theatertreffens. Und damit die Uraufführung ihres neuen Stücks, das sie mit und für die Stimme des Bochumer Ensemblemitglieds Gina Haller geschrieben hat.

Gina Haller mit einer Plastikfolie, welche Verschüttete unter Trümmern symbolisiert.

Normalerweise verbinden wir mit Lärm eine Störung, die Gespräche unterbricht oder unsere Konzentration verhindert. In diesem Fall ist Lärm eine Botschaft: „Sie wollen uns blind machen. Jetzt sehen wir mehr.“ Hunderte von Demonstranten mussten sich in augenärztliche Behandlung begeben, weil sie von Gummigeschossen sogenannter Sicherheitskräfte getroffen worden waren. Die Wut über jahrzehntelange Ungerechtigkeit und Armut hat sich 2019 in der chilenischen Hauptstadt zu einem Rauschen gesteigert, das ganz ohne politische Anführer hochgekocht ist. Und doch war mitten in diesem kollektiven Aufschrei auch akustisch Platz für das Bellen eines später „Schwarzer Bullenkiller“ genannten Hundes, der zuvor bei Studentenprotesten eine Fotografin gerettet hatte und zum Helden der Bewegung geworden war.

Manuela Infante versteht „Noise“ als Ausdrucksart der politischen Unruhe. Wie das Rumoren, das sich auf den Straßen von Santiago de Chile entwickelte gegen eine geplante Erhöhung der U-Bahn-Preise. Für die Autorin, die ihr knapp hundertminütiges Stück auch selbst inszeniert hat, ist dieses Rauschen der Klang der Stimmen der Vielen, die sich lautstark zur Wehr setzen. „Noise“ ist für sie aber auch der Einsatz von Schallwellen – seinerzeit im Vietnam-Krieg, heute gegen störende Jugendliche. Sirenen, Hubschrauber-Rotoren, Maschinengewehr-Salven, aber auch Licht-Folter: „Noise“ umspannt ein breites Spektrum vom politischen Aufruhr bis hin zum funkensprühenden Silvester-Feuerwerk. Und schließt in der kritischen Betrachtung gegenwärtiger Phänomene auch den Kriegs- und Katastrophen-Tourismus mit ein.

Die 1985 in Santiago de Chile geborene Lichtdesignerin, Bühnen- und Kostümbildnerin Rocío Hernández Marchant hat eine Handvoll altertümlicher Peitschenlampen auf die Kammerspiel-Bühne gestellt. Allmählich kristallisiert sich unter den in farbiges Licht getauchten Plastikplanen der überdimensionale Kopf einer offenbar von Demonstranten gestürzten Denkmal-Figur heraus. Die, so Haller, „verdammt melancholische Statue“ ist das spektakulärste Requisit einer Bühnen-Installation, die mit nur wenigen, sparsam arrangierten Bildern ganze Geschichten imaginiert, wie wir sie aus der Tagesschau-Alltagsrealität kennen.

Gina Haller, hierin unterstützt vom 1982 in Santiago de Chile geborenen, nun in Berlin lebenden Komponisten, Musiker, Schauspieler und Theaterregisseur Diego Noguera, spricht alle Texte in unterschiedlichster Modulation bis hin zum heimischen Schwyzerdütsch, darunter auch mit sich selbst führende Dialoge, befeuert flüsternd die Gerüchteküche, ist zugleich virtuose Geräuschemacherin bis hin zum Hundegebell und betätigt das Looper genannte Effektgerät zur Wiederholung und Überlagerung von (Ton-) Signalen in Endlosschleife. Kurz: Sie ersetzt mit diesem schier unfassbaren Solo nicht nur ein halbes Dutzend Ensemblekollegen, sondern ein ganzes Orchester.

Muss man selbst erlebt haben, auch wenn nicht nur manche Lautstärke grenzwertig ist, sondern auch der sich dem politischen Mainstream allzu sehr anbiedernde Text. Was wieder am 6., 7. und 20. November 2021 sowie am 15. Dezember 2021 möglich ist, Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel. 0234 – 3333 5555.

Freitag, 5. November 2021 | Autor: Pitt Herrmann