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Picknick am Grab des Sohnes: die „Bären“-Preisträger Jingchun Wang und Mei Yong.

Anrührendes Epos mit zwei Berlinale-Bären belohnt

Neu im Kino: Bis dann, mein Sohn

China, in einer gesichts- wie namenlosen Industriestadt im Norden der Volksrepublik in den 1980er Jahren. Xingxing und Haohao spielen in einem breiten, arg verschmutzten Flusstal unweit eines großen Staudamms. Die miteinander befreundeten Nachbarsjungen, beide bis auf den Tag gleich alte Brüder für immer, leben mit ihren Eltern in der kargen Barackensiedlung einer Maschinenfabrik, in der alle arbeiten. Haohao, der Sohn von Haiyan Li (Liya Al) und Yingming Shen (Cheng Xu), ist der Mutigere: Er stürzt sich beherzt in die offenbar von Industrieabfällen verschmutzten Fluten. Xingxing, der Sohn von Yaojun Liu (Jingchun Wang) und Liyun Wang (Mei Yong), ist ängstlicher, weil er nicht schwimmen gelernt hat, beobachtet lieber die am Wasser spielenden Kinder aus höherer Warte. Nach der Drohung seines Freundes, allein zurückbleiben zu müssen, lässt sich der Zwölfjährige doch noch überreden, in den Fluss zu steigen. Wenig später sieht man einen wohl nicht nur vor Kälte bibbernden Haohao auf einem kleinen Hügel hockend: er beobachtet, wie der leblose Körper seines ertrunkenen Freundes entdeckt und von Erwachsenen aus dem Wasser gezogen wird.

Rückblende. Ende der 1960er Jahre stoppt die kommunistische Partei den Bevölkerungszuwachs besonders auf dem Land durch die mit harten Sanktionen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes belegte Ein-Kind-Politik. Als Liyun Wang zum zweiten Mal schwanger ist, wird sie von ihrer Freundin und Nachbarin Haiyan Li, der von der Fabrik eingesetzten Beauftragten für die Geburtenkontrolle, zur Abtreibung gezwungen. Wie Hohn muss es in den Ohren von Liyun und ihrem Mann Yaojun klingen, als sie einige Zeit später in der großen Versammlungshalle vor der Arbeiterschaft einen Preis für erfolgreiche Geburtenkontrolle entgegennehmen müssen. Nachdem in der gleichen Halle die Privatisierung der Maschinenfabrik verkündet worden ist, welche sicherlich zahlreiche Arbeitsplätze kostet, beschließen Yaojun und Liyun, fortzugehen.

Familien und Freunde, v.l. Xi Qi, Jingchun Wang, Jingjing Li, Mei Yong, Cheng Yuund Liya Al.

Womit der durch das ständige Hin und Her auf der Zeitachse zunächst sehr verwirrende Film Bis dann, mein Sohn von Xiaoshuai Wang, dessen Familiendrama über Arbeitsmigranten Bejing Bicycle bereits 2001 auf der Berlinale preisgekrönt worden ist, in der Gegenwart des Jahres 2011 angekommen ist: Yaojun betreibt in einer kleinen Küstenstadt an der Taiwan gegenüberliegenden südöstlichen Provinz Fujian eine Bootswerkstatt, während seine mit ihm alt gewordene Frau Liyun Fischernetze flickt und sich um das heranwachsende, aufmüpfige Waisenkind Xing Liu (Yuan Wang, Pop-Star mit 69 Millionen Followern auf der chinesischen Plattform Weibo) kümmert. Als der notorische Schulschwänzer auch noch des Diebstahls bezichtigt wird, entzieht sich Xing mit seinem Moped der väterlichen Schelte. Er heißt absichtsvoll so wie der ertrunkene leibliche Sohn seiner „Eltern“, an den nur noch ein Familienfoto aus glücklicheren Tagen erinnert, dass aus der gefluteten Holzhütte am Meer gerettet werden kann: zwei Familien, zwei Söhne mit den roten Halstüchern der kommunistischen Jungpioniere.

Erneuter Sprung auf der Zeitachse. Moli Shen (Xi Ql), Yingming Shens Schwester, besucht ihren früheren Liebhaber Yaojun in Fujian – und wird von ihm schwanger. Haohaos Tante ist eine ausgezeichnete Studentin, die zur Weiterbildung in die USA ausreisen darf. Die elegante Moli, die auch äußerlich für das moderne, offene China steht, das gerade noch Musikcassetten beschlagnahmen ließ und „Dunkelpartys“ zu westlicher Musik mit Gewalt unterband, bietet Yaojun ihr noch ungeborenes Kind zur Adoption an – quasi als späte Wiedergutmachung für den Tod Xingxings. Liyun sei, so Moli, die bessere Mutter – sie soll entscheiden. Am Ende versöhnen sich die beiden Familien am Sterbebett Haiyans, auch der Halbstarke Xing ist reumütig zu seinen Adoptiveltern zurückgekehrt. Und Moli? Präsentiert per Skype aus den USA ihren Sohn Sunny...

Nach der Uraufführung am 14. Februar 2019 auf der Berlinale wurden die beiden Hauptdarsteller Jingchun Wang und Mei Yong jeweils mit dem „Silbernen Bären“ als beste Darsteller ausgezeichnet. „Bis dann, mein Sohn“ hat eine Länge von drei Stunden und fünf Minuten. Darauf muss man sich einlassen, auch auf die verwirrend zahlreichen Rückblenden, welche die Rahmenhandlung bereits zu Beginn aus der Chronologie werfen. In schonungsloser Offenheit prangen Regisseur Xiaoshuai Wang, der seit rund einem Vierteljahrhundert die krassen Umbrüche seines Landes thematisiert, und sein koreanischer Kameramann Hyun-seok Kim die menschenverachtenden Eingriffe des sich kommunistisch nennenden, aber wie Turbokapitalisten handelnden Pekinger Regimes in das Leben der Chinesen an. Doch „Bis dann, mein Sohn“ ist bei allem politischem Hintergrund ein zu Herzen gehendes Familiendrama, das in einer für unseren Kulturkreis merkwürdige Versöhnungsgeste mündet: Auf Besuch daheim veranstalten Yaojun und Liyun am Grab ihres ertrunkenen Sohnes Xingxing ein Picknick. „Schau nach vorne und vergiss die Vergangenheit“ sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Dieses großartige Film-Epos lehrt uns, das man die Vergangenheit nicht vergessen muss, um in die Zukunft zu blicken. Bei uns zu sehen im Casablanca Bochum und im Essener Astra.

Montag, 18. November 2019 | Autor: Pitt Herrmann