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Roberto Ciulli spielt erstmals zusammen mit Eva Mattes in der Collage „S wie Schädel“ mit Texten von Navid Kermani.

„S wie Schädel“ bei den Ruhrfestspielen

Navid Kermanis pessimistische Weltsicht

„Szenische Reflexion einer ungreifbaren Welt auf Texte von Navid Kermani“ hat Regisseur Roberto Ciulli seinen beim Kunstfest Weimar am 21. August 2024 uraufgeführten 75-minütigen Abend untertitelt, dessen Fassung vom Dramaturgen Stefan Otteni stammt und den Ciulli zusammen mit Eva Mattes auf der Bühne gestaltet.

Wie kann man eine zersplitterte, unversöhnte Welt noch fassbar machen, so dass sie sich wieder zum Sinn hin öffnet? Der Schriftsteller, Journalist und Orientalist Navid Kermani stellt diese Frage mit seinen Texten immer wieder neu und richtet dabei seinen Blick gerade dorthin, wo die politischen Konflikte das Menschliche auszulöschen scheinen. Diese Frage nach der Reflexion einer ungreifbar gewordenen Welt beschäftigt auch das Theater.

Kermani, 1967 in Siegen als Sohn aus dem Iran eingewanderter Eltern geboren, hospitierte nach dem Abitur bei Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr, bevor er ein Studium in Köln aufnahm und in den Semesterferien als Regieassistent und Dramaturg nach Mülheim zurückkehrte. Es sind düstere Texte aus seinem umfangreichen literarischen und philosophisch-religiösen Werk, die Stefan Otteni für dieses Programm zusammengestellt hat. In diesen unseren Zeiten drücken sie eher nieder – oder reizen zum Widerspruch wie die Klage einer alten Perserin, sie komme hier in Deutschland weder mit den beengten Wohnverhältnissen zurecht noch mit den Nachbarn, die sich allzu schnell über Lärmbelästigung beschweren. Sie werde daher alles daransetzen, in ihre Heimat zurückzukehren.

Eva Mattes und Roberto Ciulli nehmen Kermanis Texte, vor allem „Dein Name“ (2011) und „Das Alphabet bis S“ (2023), zum Ausgangspunkt und Kompass für eine Expedition zum Befragen unserer Gegenwart. Damit begegnen sich erstmals zwei Künstlerpersönlichkeiten auf der Bühne, deren ungewöhnliche Theaterbiografien seit fast sechzig Jahren und bis heute Spuren hinterlassen.

Eva Mattes prägte seit ihrer ersten Spielfilm-Hauptrolle den neuen deutschen Film, drehte bald mit Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog, schuf später dann unter anderem mit Peter Zadek Meilensteine der deutschen Theatergeschichte unter anderem auch am Schauspielhaus Bochum. Wo sie 1977 in Peter Zadeks legendärer Shakespeare-Inszenierung „Hamlet“ die Rolle der Gertrud spielte. In Fassbinders erster TV-Inszenierung 1972, der Adaption des Theaterstücks „Wildwechsel“ von Franz Xaver Kroetz, überraschte Eva Mattes als Hanni an der Seite unter anderem von Harry Baer als Franz und Hanna Schygulla als Ärztin mit einer Bildschirm-Präsenz, wie sie heute Stefanie Reinsperger verkörpert. Dafür gabs 1973 ihr bereits zweites Filmband in Gold.

Roberto Ciulli, legendärer Regisseur, begründete 1981 das Mülheimer Theater an der Ruhr, prägte das deutsche Theater wie kaum ein Zweiter, stellte später durch seine eigene Arbeit als Schauspieler auf brillante Art die alten Rollenzuschreibungen in Frage. Beide verbindet unabhängig voneinander ein langer Dialog mit Kermani und seinem Werk. Sie treffen auf frühere und neueste Texte aus Kermanis Romanen und Reportagen, erschaffen damit einen szenischen Kosmos, der persönliche Eindrücke, Dialoge und Perspektiven zum Zustand unserer Welt scheinbar schroff einander gegenüberstellt: ein Kaleidoskop von Geschichten und Szenen über Geburt und Tod, Liebe, Hass und Gnade.

So entsteht, behauptet die Ruhrfestspiel-Dramaturgie, durch die außergewöhnliche Konstellation von Mattes, Ciulli und Kermani ein ganz besonderer Abend, „ein leidenschaftlicher, dabei tastender Versuch, der die Splitter der Welt wieder zum Leuchten bringen soll.“ Nein, allen enthusiastischen Kritiken nicht zuletzt der FAZ, für die Kermani viele Jahre geschrieben hat, zum Trotz: Der pessimistische Abgesang „S wie Schädel“ lässt jedes Fünkchen Hoffnung verglühen. Ein Abend zweier großer Theatermacher bleibt er natürlich.

Nach der umjubelten Ruhrfestspiel-Premiere am 9. Mai 2025 wird „S wie Schädel“ noch zweimal im Kleinen Theater des Festspielhauses gespielt: Am 10. und 11. Mai 2025 jeweils um 18 Uhr. Im Anschluss an die Vorstellung am 10. Mai 2025 gibt es ein Publikumsgespräch mit beiden Protagonisten.

Samstag, 10. Mai 2025 | Autor: Pitt Herrmann