
Catherine Deneuve in „La Verite“
Leben und lügen lassen
„Ich war immer ich selbst“: Bei der französischen Leinwand-Legende Fabienne (Catherine Deneuve), die unter dem Titel La Verite (Die Wahrheit) gerade ihre Autobiografie veröffentlicht hat, haben sich schon ganz andere Kaliber als dieser recht unvorbereitete Journalist (Laurent Capelluto) die Zähne ausgebissen. Denn diese egozentrische Schauspielerin lässt sich nicht aus der Reserve locken – und aufs Glatteis schon gar nicht. Die stattliche Startauflage ihres Buches von 50.000 Exemplaren verdoppelt Fabienne im Interview ohne mit der sorgsam vergrößerten Wimper zu zucken.
In ihre hochherrschaftliche Pariser Villa, deren großzügiger Park an die unüberwindlich hohen Mauern eines Gefängnisses grenzt, kommt Leben. Fabienne lebt darin seit Jahr und Tag mit zwei Männern etwa in ihrem Alter zusammen: mit Jacques (Christian Crahay), einem phantastischen Koch mediterraner Gerichte nach dem Rezept seiner Großmutter, teilt sie das Schlafzimmer. Und mit Luc (Alain Libolt) alles Berufliche: der vornehm-zurückhaltende Herr ist ihr persönlicher Manager mit offenbar weitreichenden Verbindungen in der Branche.
Als sich die Blätter im Park herbstlich färben und die Verlage ihre Neuerscheinungen präsentieren, erscheint ihre in den USA lebende Tochter Lumir (Juliette Binoche) in Paris, um wenigstens im familiären Kreis einiges richtigzustellen. Offenbar hat ihre Mutter die gemeinsame Vergangenheit anders in Erinnerung als sie. Dass Fabienne etwa behauptet, stets eine leidenschaftliche und liebevolle Mutter für ihre Tochter gewesen zu sein, kann Lumir nicht nachvollziehen. Ihre Kindheitserinnerungen beschreiben dagegen eine ehrgeizige, divenhafte Mutter, der es vor allem wichtig war, stets im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und im Scheinwerferlicht der Kameras zu stehen.
Lumir, die mittlerweile als Drehbuchautorin in Hollywood Fuß gefasst hat, bringt ihren Mann Hank (Ethan Hawke), einen Schauspieler, und ihre gemeinsame Tochter Charlotte (Clementine Grenier) aus New York mit nach Paris. Letztere begegnet im Garten als erstes eine Schildkröte, die Pierre genannt wird, wie sie später von Oma Fabienne erfährt, und die keineswegs zufällig den Namen des ihr unbekannten Großvaters trägt. Charlotte glaubt ernsthaft, dass ihre Großmutter wie die Hexe im Wald von Vincennes im Kinderbuch ihrer Mutter unliebsame Menschen in Tiere verwandeln kann. Für das junge Mädchen, das unterm Dach im alten Kinderbett ihrer Mutter Lumir schläft, ist diese Villa ohnehin ein hochspannender Ort des Schauens, Stöberns und Spielens: „La Belle de Paris“ steht auf dem Filmplakat mit der noch jungen Fabienne.
Dann steht mit Pierre (Roger van Hool) die Schildkröte plötzlich aufrecht auf zwei Beinen, wenn auch mit Laub im weißen zotteligen Haar, vor seiner Enkelin. Und repariert für seine Enkelin das papierne Miniaturtheater. Er ist gekommen, um mit Fabienne auf ihr neues Buch anzustoßen – und lernt nun erstmals Schwiegersohn Hank und Charlotte kennen. Die Hausherrin kann sich freilich nicht lange mit ihrem „Еx“, den sie einst ohne nähere Begründung vor die Tür setzte und in ihren Memoiren sogar für tot erklärt hat, beschäftigen, da sie sich auf die aktuellen Dreharbeiten eines Films, welcher von einer sogar noch komplizierteren Mutter-Tochter-Beziehung als der eigenen erzählt, konzentrieren muss.
In der Leinwand-Adaption der Kurzgeschichte „Мemories Of My Mother“ (in der deutschen Fassung: „Andenken an meine Mutter“) des preisgekrönten Science-Fiction-Autors Ken Liu spielt Fabienne eine 73-jährige Frau, die damit leben muss, dass ihre eigene Mutter inzwischen altersmäßig ihre Tochter sein könnte. Denn diese von Manon (Manon Clavel) verkörperte Frau lebt auf einer Weltraum-Station und kehrt nur alle sieben Jahre kurz auf die Erde zurück. Da Menschen im All nicht altern, wird Manon vergleichsweise immer jünger – und ihre Tochter immer älter. Zusammen mit Manon, die einer gewissen Sarah in Auftritt und Aussehen wie eine Zwillingsschwester ähnelt, und der jungen, noch unsicheren Nachwuchsdarstellerin Amy (Ludivine Sagnier) erlebt Fabienne im Filmstudio Epinay ein Dejavu-Erlebnis nach dem anderen: Film im Film, Leben im Leben. Einsam, aber erfolgreich: Fabienne sitzt in der Vorweihnachtszeit einsam in einem chinesischen Restaurant und muss zusehen, wie die Großmutter der Besitzerfamilie im Kreis ihrer Nachkommen gefeiert wird.
Und dann noch ein Schlag: Luc, das so stille wie umtriebige Mädchen für alles, hat festgestellt, dass er in der Autobiographie mit keinem Wort erwähnt wird. Er kündigt fristlos. Allmählich wendet sich das Blatt in der Beziehung zwischen Fabienne, die besagter, aber nicht persönlich erscheinender Schauspielkollegin Sarah vorwirft, ihr die Tochter gestohlen zu haben, und Lumir. Und Luc kann mit einem großen Abendessen im Kreis seiner Familie zur Rückkehr bewegt werden...
„La Verite“, die Uraufführung am 28. August 2019 eröffnete die 76. Internationalen Filmfestspiele Venedig, ist ein mit einem internationalen Starensemble besetztes Mutter-Tochter-Drama über Glück, Erinnerung, Lügen und Familienkonflikte. Die zumindest in den Film-im-Film-Passagen auch Cineasten überzeugende Hommage an die große französische Schauspielerin Catherine Deneuve, welche Kameramann Eric Gautier stets ins rechte Licht zu setzen versteht, ist der erste Film, den der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda („Nobody Knows“, „Like Father, Like Son“, Goldene Palme Cannes 2018 für „Shoplifters“) außerhalb seines Heimatlandes gedreht hat. Er ist vergleichsweise emotionslos und mit 107 Minuten zu lang ausgefallen, um so packen zu können wie seine Vorgänger. La Verite – Leben und lügen lassen kommt am Donnerstag, 5. März 2020, in unsere Kinos, zu sehen im Casablanca Bochum (DF und OmU), Roxy Dortmund und Filmstudio Glückauf Essen.