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Omas Tomaten schmecken nicht nur Marlies (Johanna Wokalek, l.) und Tochter Kalinka (Karolin Nothacker, r.)

Coming of age einer jungen Bäuerin

Kino-Tipp: 'Milch ins Feuer'

Anna (Pauline Bullinger) ist von Michi (Simon Steinhorst), einem ziemlich tumben, nur durch rechte Sprüche auffallenden Jungen schwanger und denkt darüber nach, ob sie das Kind behalten soll. Denn eigentlich will sie weg aus der Gegend. Katinka (Karolin Nothacker) kann als junge Frau ohne entsprechende Berufsausbildung vielleicht keine Bäuerin werden, steht aber ihren Mann im Melkstand – und das im grünen Bikini. Immerhin sind Oma Emmas (Lore Bauer) auf der Veranda gezogenen Tomaten in diesem Jahr so gut geworden wie nie zuvor. Ein Sommer auf sterbenden Bauernhöfen…

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Frauen spielen in der patriarchalisch geprägten Landwirtschaft noch immer eine untergeordnete Rolle – und zwar im wahren Wortsinn, denn bis heute ist es in vielen bäuerlichen Familien Tradition, dass nicht die Tochter, sondern ein Sohn den Hof erben wird. Mit dieser Tradition sieht sich auch die 17-jährige Katinka konfrontiert, die eigentlich gerne den elterlichen Hof eines Tages führen würde und schon jetzt an der Seite ihrer Mutter Marlies (Johanna Wokalek) tatkräftig mit anpackt.

Den Traditionen zum Trotz

Obwohl sich durch den Preisverfall auf dem (Super-) Markt das Milchgeschäft schon länger nicht mehr rentiert, will Katinka nicht woanders leben. Denn hier hat sie ganz viel Natur und mehr als nur einen Stall voller Tiere, angefangen mit ihrem gemütlichen Hund Flipper über den mächtigen (Reit-) Stier Anton bis hin zu Lamas. Vor allem aber hat sie hier ihre Schwestern Emma (Anne Nothacker) und Emilie (Sara Nothacker) sowie ihre beste Freundin Anna, mit denen sie jede freie Minute im Fluss verbringt. Wo andere keine Zukunft sehen, versucht Katinka, sich eine zu bauen, den Traditionen zum Trotz.

Als Michi am Steuer sitzt, tanken Kalinka (Karolin Nothacker) und Carina (Lorena Elser) frische Landluft.

Dieser bäuerliche Alltag jenseits aller „Landlust“-Idylle steht im Zentrum von Justine Bauers großartigem Debütfilm, der sich auch durch ungewöhnliche Bildausschnitte des spanischen Kameramanns Pedro Carnicer auszeichnet. Der Nachbar (Martin Bauer) protestiert schon seit geraumer Zeit mit dem Aufstellen von grünen Kreuzen auf seinen Feldern gegen die Diskriminierung von Kleinbauern durch Berlin und vor allem Brüssel, das nur die industrielle Landwirtschaft der Massentierhaltungs-Großbetriebe subventioniert.

Als seine Frau stirbt, schließt er trotz der Verantwortung für seine noch sehr jungen Töchter Heidi (Alexandra Balmer) und Klara (Lisa Renner) mit dem Leben ab, nachdem er mit einer leidlich publikumswirksamen Aktion, die dem Film ihren Titel gab, ein letztes Mal auf die Misere der kleinen Milchbauern aufmerksam gemacht hat.

Abrechnung mit den Städtern

„Milch ins Feuer“ rechnet mit überheblichen Städtern in Person allzu neugieriger Fahrrad-Touristen (Dembo Bachilly, Bai Ebrahim Cham und Momodou Lamin Jattascheut) und mit tristen Neubau-Siedlungen samt Mährobotern im Garten auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen ab und wartet mit für Städter drastischen, für Landbewohner alltäglich-selbstverständlichen Szenen wie der Kastration eines Lamas oder dem Umgang mit zu vielen Katzenbabys auf.

Das Ende nach achtzig Minuten aber stimmt versöhnlich: die ganze Familie versammelt sich zum Fotoshooting vor dem Bauernhof. Sie soll, sozusagen als optischer Herkunftsnachweis der von der Molkerei verarbeiteten Milch, die Etiketten der Joghurtgläser zieren.

Regisseurin stammt aus einer bäuerlichen Familie

Die Regisseurin Justine Bauer kommt selbst aus einer bäuerlichen Familie, sie weiß also, wovon sie erzählt, und das merkt man ihrem Film in jeder Sekunde an. Sie fängt den anstrengenden Tagesablauf ihrer Protagonisten in einer Mischung aus dokumentarisch anmutendem Realismus und sanft poetischer Überhöhung ein, wobei letztere nicht verklärend wirkt, sondern die ganz eigene Schönheit dieses rauen Lebens veranschaulicht.

Außer Johanna Wokalek als Mutter sind fast alle Rollen mit Laiendarstellern, die im Hohenloher Dialekt reden, besetzt, was diesem gleichermaßen faszinierenden und berührenden Film im Spannungsfeld zwischen Idylle und Abgehängtsein eine zusätzliche Authentizität verleiht.

Hohenlohische Mundart

Gedreht wurde im alten 4:3-Format in der Region Hohenlohe, deren Mundart – das Hohenlohische – im Film überwiegend gesprochen wird. Diese oberdeutsche Variante, stark landwirtschaftlich geprägt, variiert von Dorf zu Dorf und ist unter jungen Menschen nur noch selten lebendig. Hauptdarstellerin Karolin Nothacker wurde über einen Zeitungsaufruf gefunden und brachte ihre drei Geschwister mit ans Set, die im Film ebenfalls ihre Geschwister spielen.

Die Rolle der Mutter verkörpert die vielfach preisgekrönte Theater- und Film-Schaspielerin Johanna Wokalek. Sie arbeitete mit einem Dialektcoach, um sich (beinahe) nahtlos in die Riege der Laien einzureihen. Großmutter Emma wird von Lore Bauer verkörpert, der realen Großmutter der Regisseurin, die den mündlichen Reichtum dieser Sprache mitbringt – und die leider kurz nach den Dreharbeiten verstarb.

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Justine Bauer wuchs auf einer Straußenfarm in Deutschland auf. Sie studierte Bildende Kunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig und danach postgradual Spielfilmregie und Drehbuch in Köln. „Milch ins Feuer“ ist Justine Bauers Abschlussfilm an der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM) und ihr Debütfilm. Nach der Uraufführung am 2. Juli 2024 beim Filmfest München ist „Milch ins Feuer“ seit Donnerstag (7.8.2025) in den Kinos gestartet, bei uns zu sehen nur im Sweetsixteen in der Dortmunder Nordstadt, dafür aber noch bis einschließlich 3. September 2025.

Sonntag, 24. August 2025 | Autor: Pitt Herrmann