Kolumne von Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey
Ins „Büdchen“ statt zum Hausarzt
Unlängst berichtete der WDR in der „Aktuellen Stunde“, wie in Plettenberg im Sauerland der kinderärztliche Notstand ausgebrochen ist. Nur noch ein Kinderarzt steht für die 25000-Einwohnerstadt plus Umland zur Verfügung.
Zur Bekämpfung des Hausarztmangels im ländlichen Bereich hat unser Minister Laumann bekanntlich eine Art Seelenfänger-Programm auf den Weg gebracht: die bevorzugte Vergabe von Medizinstudienplätzen an Studenten, die sich verpflichten, nach Abschluss ihrer Facharztausbildung als Hausarzt im „Outback“ tätig zu werden. Arzt werden, koste es was es wolle...
Ein Blick auf die Altersstruktur der niedergelassenen Kinderärzte und Hausärzte zeigt, wie brennend das Problem ist. Über 70 % der Ärzte in beiden Fachgruppen ist über 50, vor allem aber deutlich über 30 % sind älter als 60 Jahre und der Anteil der über 65jährigen ist 3x höher als der unter 40jährigen. Bis 2025 werden 25% aller Kinder- und Hausärzte in den Ruhestand gehen, in Ostdeutschland sind es sogar fast 40 %, ohne dass ein adäquater Nachwuchs in Sicht wäre. Da die Bevölkerungszahl entgegen früherer Erwartungen nicht rückläufig ist, verändert sich zudem die Einwohner-Arzt-Relation auch negativ.
12 000 Studierende beginnen jedes Jahr mit einem Medizinstudium, aber nur knapp 9500 machen den Abschluss. 2500 Studenten (etwa ein Fünftel) brechen das Medizinstudium ab oder wechseln das Studienfach. Und immer mehr Absolventen eines Studiums der Humanmedizin werden letztlich nicht ärztlich tätig. Oder sollte man vielleicht sagen, sie riechen den Braten, bevor sie ihr Leben verkauft haben? Denn von denjenigen Studenten, die einen Abschluss gemacht haben, beginnen nur etwa 7500 mit dem obligatorischen Praktikum. Zwei Drittel von ihnen sind inzwischen Frauen.
Tatsächlich und erstaunlicherweise ist die Zahl derer, die eine Facharztausbildung zum Haus- oder Kinderarzt abschließen, gar nicht so gering. Es hat sogar in den letzten Jahren einen moderaten Anstieg gegeben. Nur ist eben die mit dem Beruf des niedergelassenen Arztes verbundene Realität nicht mit der Lebensperspektive junger Menschen kompatibel.
Die Zeiten, in denen man als Arzt das Ende der Facharztausbildung kaum erwarten konnte, um sich in einer Praxis selbstständig zu machen, sind längst vorbei. Mittlerweile überlegen es sich die fertig ausgebildeten Dreißiger - so lange dauert es, bis ein Facharzt fertig „gebacken“ ist - dreimal, ob sie sich mit einer 60 – 70 Stunden Woche plus Bereitschaftsdiensten in einer Praxis selbstständig machen oder lieber mit geregelten Arbeitszeiten als Angestellte eines MVZ oder in einem Krankenhaus arbeiten wollen. Insbesondere für Frauen, zunehmend aber auch für männliche Kollegen, ist die Perspektive als niedergelassene Ärzte immer weniger reizvoll. Die Tatsache, dass auch die Kinder von Ärzten und insbesondere Ärztinnen einen legitimen Anspruch auf ihre Eltern haben, unterliegt bei den Gesundheitspolitikern einer völligen Ignoranz. Der Wunsch nach Elternzeit niedergelassener Ärzte dürfte in den zuständigen Ministerien geradezu Schnappatmung auslösen.
Im Fall der Kinder- und Jugendmedizin sind es ca. 85 % Frauen, die nach dem Studium für eine entsprechende Tätigkeit in einer Praxis in Betracht kämen. Man mag es kaum glauben, auch Ärztinnen werden schwanger. Während schwangere Mitarbeiterinnen in den meisten Praxen vom ersten Tag der Schwangerschaft einem Beschäftigungsverbot unterliegen, interessiert dieser Zustand bei den niedergelassenen Kolleginnen niemanden. Sie werden sogar zu Bereitschaftsdiensten eingeteilt. Werden die Bezüge der Mitarbeiterinnen weitgehend von den Krankenkassen übernommen, müssten die Ärztinnen bei schwangerschaftsbedingter Abwesenheit sogar für eine fachgleiche Vertretung sorgen, auf eigene Kosten natürlich. Sonst kann bei längerer Vakanz der Sitz eingezogen werden, auch dies natürlich entschädigungslos. Man kann sich vorstellen, wie dieser Zustand die Bereitschaft besonders von Ärztinnen, in eigener Praxis tätig zu werden, „fördert“.
Das alles scheint unseren politischen Entscheidern nicht bewusst zu sein. Seit Jahren frage ich mich, ist diese Ignoranz Vorsatz oder Ausdruck einer an Dummheit grenzenden Inkompetenz?
Damit sich der Ärztemangel nicht weiter verschärft, müssen die Rahmenbedingungen der jungen Ärztegeneration, vor allem den Ärztinnen angepasst werden. Kinder- und hausärztliche Großpraxen und MVZ mit 15 – 20 oder mehr Arztstellen könnten eine Lösung sein. Wenn diese allerdings im Besitz und unter der Leitung von rein profitorientierten Unternehmen sind, wäre die nächste Katastrophe in der Versorgung und der Kostenentwicklung schon vorprogrammiert, wie die Einführung der Fallpauschalen mit Kostenexplosion und Pflegenotstand insbesondere bei den privaten Krankenhausträgern gezeigt hat.
Jetzt kommt Gesundheitsminister Lauterbach mit sogenannten Gesundheitskiosken aus den Sträuchern, rund 1000 sollen es bundesweit werden. Damit will er eine bessere medizinische Versorgung in sozial benachteiligten Regionen erreichen. Die Kioske sollen pro 80.000 Menschen errichtet werden. „Im Vordergrund muss die Armut des Stadtteils stehen“, sagte Lauterbach bei der Präsentation der Pläne. Als Mitarbeiter sollen MfA (=Arzthelferinnen), Kinder-, Alten- und Krankenpfleger gewonnen werden. Sie sollen auf ärztliche Veranlassung in verschiedenen Sprachen medizinische Routine-Untersuchungen wie Blutdruck- oder Blutzuckermessungen durchführen, Behandlungen in Arztpraxen und Krankenhäusern vermitteln, chronisch Kranke begleiten oder in Gesundheitsfragen wie Abnehmen oder Raucher-Entwöhnung beraten.
Ziel ist (Zitat)
- den Gesundheitsstatus der Bevölkerung zu verbessern und den Anteil der Chronifizierungen zu verringern,
- die Gesundheitskompetenz sowie Eigenverantwortung der Bevölkerung zu stärken,
- die Patientenzufriedenheit, -erfahrung sowie -zentrierung zu erhöhen,
- Fehlinformationen und lange Suchbewegungen nach Erstinformationen zu vermeiden,
- die Versorgungsdefizite im ambulanten Bereich zu minimieren, vorhandene Ressourcen zielorientiert einzusetzen und
- die wohnortnahe Versorgung zu stärken.
Das liest sich auf den ersten Blick ja ganz schön und scheint auch nahe bei Forderungen des Sachverständigenrates, der einen niedrigschwelligen Zugang zu den Leistungen des Gesundheitswesens als entscheidend für ein bedarfsgerechtes System vor allem in strukturschwachen Regionen und vulnerablen Bevölkerungsgruppen erachtet, zu sein. Mir erscheint es eher als realitätsferne Schwurbelei.
Naturgemäß gibt es derartige Einrichtungen auch nicht zum Nulltarif. Die gesetzlichen Krankenversicherungen sollen 74,5 % tragen, 5,5 % die Privaten und 20% die Kommunen. Erfolgt die Bezahlung von Ärzten und Krankenhäusern pro Fall, werden im Fall dieser „Kioske“ die entstehenden Kosten einfach pauschal aufgeteilt, was natürlich vor allem bei den chronisch klammen Kommunen und gesetzlichen Krankenkassen Panik auslöste.
Sicher kann man viele gesundheitsrelevante Tätigkeiten auch von nicht ärztlich ausgebildeten Personen ausführen lassen. Woher aber die Mitarbeiter der „Gesundheitskioske“ angesichts der gegenwärtigen Pflegekatastrophe kommen sollen, wird ein Geheimnis des „Arztes“ Karl Lauterbach bleiben. Letztlich jedoch ist das ganze Konzept wohl nichts anderes als das Eingeständnis, dass man keine wirkliche Idee hat, wie man den Kollaps der haus- und kinderärztlichen Versorgung in abgelegenen und strukturschwachen Regionen verhindern kann.