Puccinis 'Turandot' im Essener Aalto-Theater
Gewaltsame Machtergreifung
Giacomo Puccinis letzte, unvollendet gebliebene Oper „Turandot“, das Schluss-Duett der Protagonisten und das Finale sind von Franco Alfano vervollständigt worden, ist zunächst eine ziemlich blutige Angelegenheit, die bereits in den Erzählungen aus „1001 Nacht“ vorkommt: Der unbekannte Prinz Kalaf wirbt um Turandot, die so schöne wie selbstbewusste Tochter des chinesischen Kaisers Altoum, im Bewusstsein, dass diese jedem Heiratskandidaten drei Rätsel aufgibt und allen bisherigen Bewerbern wie zuvor angekündigt den Kopf abschlagen ließ, nachdem sie diese nicht lösen konnten.
Zum anderen weist „Turandot“ Elemente der Commedia dell’arte aus dem gleichnamigen Schauspiel Carlo Gozzis („Turandotte“) aus dem Jahr 1762 auf – wie die ironischen Kommentare der drei Minister Ping, Pang und Pong. Puccini las das Werk bemerkenswerterweise nicht im Original, sondern in der italienischen Rückübersetzung der Bearbeitung Friedrich Schillers für das Weimarer Hoftheater.
'Nessun dorma' gesungen statt geschmettert
Das dreiaktige Dramma lirico, anderthalb Jahre nach dem Tod des Komponisten am 25. April 1926 in der Mailänder Scala unter Arturo Toscanini uraufgeführt, dessen gekürzte Version in Essen gespielt wird, gehört zu den populärsten Musiktheater-Kompositionen, was nicht zuletzt an der weltberühmten Arie „Nessun dorma“ aus dem dritten Akt liegt: „Keiner schlafe!“ fordern die Herolde vom Volk, gilt es doch, den Namen des fremden Prinzen herauszufinden, der um Turandot wirbt. Auch Kalaf stimmt mit ein, freilich mit anderer Stoßrichtung: Seinen Namen will nur er selbst seinem Objekt der Begierde offenbaren.
Die Modernität der Oper liegt zum einen in ihrem emanzipatorischen Charakter: Um nicht das Schicksal und die Demütigung ihrer Ahnin Lo-u-Ling zu erleiden, versucht Turandot (moderne Frau im Business-Look: Astrik Khanamiryan) als selbstbestimmte Herrscherin das Patriarchat ihres greisen Vaters Altoum (ein General am Tropf: Rainer Maria Röhr) durch ein Matriarchat abzulösen. In der Hoffnung auf eine biologische Lösung will sie mit dem blutigen Rätsel-Reglement Zeit gewinnen – und nicht zuletzt das wetterwendische Volk mit „Brot und Spielen“ bei Laune zu halten.
Umjubelter Einstand für Idil Kutay
Dass bei Puccini und seinen Librettisten Giuseppe Adami und Renato Simoni mit Liù (die junge türkische Sopranistin Idil Kutay gibt einen umjubelten Einstand) die Figur einer Sklavin deutlich aufgewertet ist, fällt in der einst skandalträchtigen Inszenierung Tilman Knabes unter den Tisch: Sie ist mit dem aus Persien vertriebenen Herrscher Timur (Andrei Nicoara), der auf ihre Hilfe angewiesen ist und sie dennoch misshandelt, nach China geflüchtet, wo sie vor den Toren Pekings auf dessen Sohn, ihre heimliche große Liebe Kalaf (Ovationen für Jorge Puerta) trifft. Der aber nur Augen für Turandot hat, weil er, so die Essener Deutung, sie für den eigenen Herrschaftsanspruch benötigt.
Zum anderen liegt die Modernität der Oper, deren Aktualität sich aus den täglichen Nachrichten über die Renaissance totalitärer „Demokratien“ mitten in Europa und in Übersee speist, von der Musik, die Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti (allzu) deutlich als Komposition des 20. Jahrhunderts erkennbar macht. Was bei diesem Dramma lirico besonders in den Bildern des dritten Aktes zu – gewollten – Verlusten führt.
Szenisches Intermezzo
Der wird durch ein szenisches Intermezzo der drei Minister, die zunächst als Tatort-Reiniger die brutalistische Bühnenarchitektur Alfred Peters betreten, unterbrochen: Sie kommentieren das bisherige Geschehen und machen sich Gedanken über den Schluss der Oper, der im Guckkasten des einer Gefängniszelle gleichen Schlafgemachs Turandots spielt: Kalafs gewaltsamer Machtergreifung durch Vergewaltigung folgt die Zwangsjacke eines Hochzeitskleides – und der stumme Schrei der gedemütigten, im Grunde ausgelöschten Titelheldin.
Prophetische Inszenierung
Ja, das ist starker Tobak, aber auch erschreckend prophetisch, wenn man bedenkt, dass Tilman Knabes Inszenierung, die am 23. September 2007 zu besten Soltesz-Zeiten Premiere feierte, fast zwanzig Jahre auf dem Buckel hat. Sie ist nun zehn Jahre nach der ersten Wiederaufnahme wieder ins Aalto-Theaters zurückgekehrt – mit einer großartigen reinen Hausbesetzung. Die am Premierenabend des 5. Oktober 2025 freilich durch eine Erkrankung des Tenors Aljoscha Lennert gesprengt wurde. Seine Partie des Ministers Pang übernahm kurzfristig unter großem Sonderapplaus ein einstiger professioneller Snowboarder aus dem Ensemble des Theaters Trier, der US-Amerikaner Derek Rue.
Die weiteren Vorstellungen im Aalto-Theater:
- Freitag, 10. Oktober 2025, 19.30 Uhr
- Sonntag, 19. Oktober 2025, 16.30 Uhr
- Sonntag, 26. Oktober 2025, 18 Uhr
- Samstag, 1. November 2025, 19 Uhr.
Karten unter theater-essen.de oder unter Tel. 0201 - 81 22 200.
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- Samstag, 1. November 2025, um 19 Uhr
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- Freitag, 10. Oktober 2025, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 19. Oktober 2025, um 16:30 Uhr