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Amal (Talisa Lara Schmid) muss sich der Zudringlichkeiten von Abdoul Latif (Bashar Al Murabea) und seinem Chef Leif (Oliver Möller) erwehren.

Querdenker und Antisemiten am WLT

Dunkle Mächte

Eine Flamme lodert auf und aus dem Off sind typische Fake-News der Art „Angela Merkel ist eine Tochter von Adolf Hitler“ zu hören. Auf den Prolog folgt eine kleine Rahmengeschichte als Puppenspiel zwischen einem zipfelbemützten Kasperle (Oliver Möller) und einem Fes tragenden Hakawati (Bashar Al Murabea), einem traditionellen arabischen Geschichtenerzähler. Thema: Lachen in Deutschland in der NS-Zeit. Wir erfahren, dass Italiens faschistischer Herrscher Benito Mussolini Radios in Cafés hat bringen lassen, um die Bevölkerung in den von seinen Truppen besetzten arabischen Ländern ideologisch zu beeinflussen. Tenor: Heute ist nichts besser, weil die Menschen nichts dazugelernt haben.

Amal (glänzte zuletzt in „Verräter“ am WLT: Talisa Lara Schmid) hat Geschichte studiert – und dann doch die Schneiderei ihrer Eltern, die sich zur Ruhe gesetzt haben, übernommen. Sie versteht sich als moderne, weltoffene Frau, die von ihrem biodeutschen Freund Benjamin ein Kind erwartet. Ihre jüngere Schwester Hanife (frisch von der Theaterakademie Köln: Sima Laux) dagegen versteht sich als emanzipierte muslimische Frau, als selbstverständlich Hijab tragende Feministin. Sie studiert offiziell Medizin, betätigt sich aber in erster Linie als in bestimmten Kreisen einflussreiche Instagram-Influencerin.

Beim Insta-Livestream noch ein Herz und eine Seele: die Schwestern Hanife (Sima Laux) und Amal (Talisa Lara Schmid).

Zu diesen Kreisen zählt auch Aboul Latif (der Syrer Bashar Al Murabea als Gast vom Theater Duisburg), von Hanife als „Haussklave“ verunglimpfter Adlatus des Industriellen Leif (Gast vom Schauspielhaus Bochum: Oliver Möller), welcher zwar die elterlichen Edelstahl- und Kabelwerke geerbt hat, sich als bekennender Anhänger Rudolf Steiners aber als „querdenkender“ Sozialist ausgibt und krudes Zeugs von sich gibt. Bei dem Amal die Haare zu Berge stehen, als Leif drei bereits vor zwei Jahren bestellte und noch von ihrem Vater gefertigte Maßoberhemden in Empfang nimmt.

Leif, der nicht abgeneigt ist, sich von Amal einen dreiteiligen Anzug umarbeiten zu lassen, weshalb diese ihm als potentiell gutem Kunden einiges durchgehen lässt, gibt im Duett mit Abdul Verschwörungstheorien wie diese zum Besten, dass alle Geimpften von einer Wärmebildkamera durchleuchtet werden zwecks staatlicher Datensammlung zur späteren allumfassenden Kontrolle. Hinzu kommen antisemitische Äußerungen des von seinem Chef instrumentalisierten Aboul, die bei Amal Widerspruch hervorrufen. Was ihre Schwester solchermaßen kontert: „Der kann ja gar kein Rassist sein, weil er selbst ausländische Wurzeln hat.“

Zionistisch gelenkte Systempresse versus alternative Medien im weltweiten Netz: „Wir sind die Zukunft, wir können alles bewegen“ gibt sich der an einem antisemitischen publizistischen Projekt bastelnde Unternehmer Leif als anthroposophischer Grüner und Wagnerianer zu erkennen, der aus dessen aufrührerischen Schriften („Die Kunst der Revolution“) im Vorfeld des sechstätigen Dresdener Maiaufstandes 1849 zitiert. Der steckbrieflich gesuchte Revolutionär Richard Wagner entzog sich damals der drohenden Verhaftung durch Flucht in die Schweiz…

Genug der Belege papierner Dialoge aus brav angelesener Materialfülle grassierender Verschwörungserzählungen, die sich in Einzelheiten verlieren, sodass auch erwachsene Zuschauer bei der Uraufführung am 19. Dezember 2021 in der Stadthalle Castrop-Rauxel den Faden verloren haben. Dabei ist das Stück „Dunkle Mächte“ von Sineb El Masrar, das dramatische Debüt der Berliner Publizistin, Schriftstellerin und Autorin mit marokkanischen Wurzeln, ein Auftragswerk des Westfälischen Landestheaters und der nordrhein-westfälischen Landeszentrale für politische Bildung, in erster Linie gedacht für ein jugendliches Publikum ab zehnter Klasse.

Ihr, so die Autorin, „zeitloses Stück für unsere postmigrantische Gesellschaft“ zeigt die leichte Manipulierbarkeit der Menschen durch sog. Alternative Medien. In der abstrakt-kargen Ausstattung Anja Müllers und inszeniert vom WLT-Chefdramaturgen Christian Scholze nimmt „Dunkle Mächte“ die Fake News der „Querdenker“ und Qanon-Anhänger, aber auch der sich auf Rudolf Steiner berufenden Impfgegner aus dem politischen Spektrum der baden-württembergischen Grünen aufs Korn.

Die zunächst harmlos erscheinende Ausgangssituation in Amals Geschäft eskaliert bis hin zu körperlicher Gewalt. Dabei steht die Verteidigerin unserer Demokratie allein gegen drei Fundamentalisten unterschiedlicher Couleur. Das mag in vielen Regionen unseres Landes der Realität entsprechen, für das pädagogischen Ziel eines bewusst generationenübergreifenden Theaterstücks sind diese einseitige Ausganglage wie der hier nicht gespoilerte Schluss fatal. Hoffen wir, dass das begleitende Angebot, zu dem eine Materialmappe zur thematischen Einführung, der Besuch einer Vorstellung mit moderiertem Nachgespräch sowie ein verpflichtender sechsstündiger Workshop, der sich zeitnah an den Vorstellungsbesuch anschließt, gehört, zum erklärten Ziel führt, sowohl die Gefahr der fundamentalistischen Haltungen deutlich zu machen als auch Strategien darzulegen, wie der Einzelne sich dagegen behaupten kann. Der Einzelnen im Stück blieb eine solche Strategie leider versagt.

Mittwoch, 22. Dezember 2021 | Autor: Pitt Herrmann