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Mädchen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden (v.l.): Emily Lück, Daria Anna Halander, Sivin Hasso, Gresa Qualaj und Arina Ponomarenko.

Nur noch wenige Vorstellungen

Der Hamiltonkomplex am Schauspielhaus

Schon die Bühne (Chloe Lamford) der Kammerspiele Bochum ist ein Gedicht zwischen Traum und Wirklichkeit: vor einem flämisch anmutenden Idyll einer Flusslandschaft antike Säulen neben profaner Stapelware heutiger Plastikstühle, später jede Menge plüschige Stofftiere und, Traum eines jeden Mädchens, ein veritables Pferd, das ganze Evinronment überwölbt von einem knallbunten Regenbogen aus Luftballons und Lametta. Zur namentlichen Vorstellungsrunde formiert sich das Ensemble von zwölf dreizehnjährigen Mädchen aus Bochum und Umgebung in adretten Stewardessen-Kostümen an der Rampe. „Sieh auf deinem Weg / Jungen, vergessen, verirrt, / Gib ihnen die Hand, / um sie zu führen / zu einer anderen Zukunft“: Sie intonieren das berühmte Chorlied Bruno Coulais' von 2004 in französischer Originalsprache. Um dann im Handumdrehen beim 1962er Beatles-Hit „Love Me Do“ in der Coverversion von Sandy Shaw in völlige Ekstase zu verfallen. Zumal dann auch noch Elyas M'Barek auf den beiden sonst für deutsche und englische Untertitel reservierten Monitoren auftaucht.

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Lies Pauwels stellt mit Der Hamiltonkomplex am Schauspielhaus Bochum eine zumindest für deutsche Verhältnisse äußerst ungewöhnliche Produktion vor, die es nach der Uraufführung im Hetpalais Antwerpen auf 65 gefeierte Aufführungen gebracht hat. Mit zwei ihrer Protagonisten, der körperlich und geistig behinderten Robine Goedheid als Königin, und dem Bodybuilder Stefan Gota, sowie einem Dutzend hochmotivierter Bochumer Teenager taucht die im belgischen Gent geborene Schauspielerin und Regisseurin tief in die im extremen Wandel befindliche Welt junger Mädchen auf Identitätssuche zwischen Kindheit und Erwachsensein ein. Wut und Frustration, Verlust und Chaos stehen neben höchsten Glücksmomenten: „Mit 13 ist der Moment“, so Lies Pauwels, „in dem wir etwas von unserem instinktiven Bewusstsein und unserer emotionalen Intelligenz verlieren. Die Erwachsenenwelt besteht aus Restriktionen, Regeln, Verboten und Geboten. Aus diesen vielen Dingen, die man machen muss. Darüber haben wir unsere Instinkte vergessen. Wir verlassen uns auf Regeln statt auf Instinkt und Intuition. Wo ist unsere emotionale Intelligenz geblieben im Umgang mit der Welt?“

Berührender Pas de deux: Stefan Gota und Robine Goedheid.

Der Hamiltonkomplex erzählt keine Geschichte im herkömmlichen Sinn. Kurze Dialoge oder ein Gedicht schon, im Wesentlichen aber geht es um das Leben der Mädchen auf der Bühne, ihre ganz privaten Ängste und Sehnsüchte – emotional noch verstärkt durch einen suggestiven Soundtrack aus Klassik (Carl Heinrich Graun, Antonio Vivaldi) über Folk (Joan Baez) und Anti-Folk (Kimya Dawson) bis hin zu Pop (Sia, Chris Bell). Selbstbewusstes Posing unter knallroten Heinzelmännchen-Kappen: Dass da kein schwüler Voyeurismus aufkommt binnen gut 90 hochspannender Minuten, liegt an der immer wieder ironisch-witzigen Inszenierung, die in weiten Teilen einer Choreographie gleichkommt. Wie in dem nachhaltig berührenden Pas de deux zwischen dem hünenhaften Muskelpaket Stefan Gota und der in allen Lebenssituationen auf Hilfe angewiesenen Robine Goedheid. Die sich selbst bei herausfordernden Gruppenchoreographien auf ihre Komplizinnen verlassen kann.

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Erwachende Lolita-Sexualität wechselt mit artistischer Equilibristik, kitschige Dolls, die gerade einem der fürchterlichen US-Kinderwettbewerbe entsprungen zu sein scheinen, mutieren zu träumerischen, blumenbekränzten Prinzessinnen aus den Disney-Märchenfilmen, aus wehrhaften Amazonen gegen potentielle Vergewaltiger werden lässige Zigarettenraucherinnen und schließlich selbstbewusste Models auf dem Catwalk. Es ist eine bunte, bisweilen naturgemäß auch beliebige Mischung, aber von der ersten bis zur letzten Minute nicht nur höchst unterhaltsam, sondern auch zum Nachdenken anregend. „So etwas wie Der Hamiltonkomplex, stellt Lies Pauwels fest, „kann nur über Vertrauen funktionieren. Nur dann können die Spielerinnen alles geben. Und sie geben alles. Das ist für mich die Schönheit und die Magie des Abends.“ „Deine gerechten Gesetze, durch Freiheit erlangt, / Haben Dich lang und gut regiert; / Durch Freiheit gewonnen, durch Wahrheit erhalten, / Wird dein Reich stark sein“ heißt es am Ende in Vera Lynns britischer Hymne Land of Hope and Glory. Der Hamiltonkomplex ist auch eine Mahnung, das Erkämpfte nicht auf dem Altar populistischer Heilsversprechungen zu opfern.

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  • Samstag, 22. Dezember 2018, um 18 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann
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