
Auftakt mit „Nathan der Weise“
Das WLT wird digital
Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge. Der reiche jüdische Kaufmann Nathan (kein abgeklärter Alter, sondern ein junger, heutiger „weiser“ Geschäftsmann: Guido Thurk) hat einst mit Recha (verliebtes junges Ding mit unbändigem Bewegungsdrang: Franziska Ferrari) ein christliches Waisenkind angenommen und es als seine eigene, jüdische Tochter erzogen. Ein Geheimnis, in das nur Daja (verkappte Fundamentalistin: Vesna Buljevic), die – ebenfalls christliche – Gesellschafterin Rechas, und ein Klosterbruder (nur scheinbar kritiklos-folgsamer Diener des Herrn: Tobias Schwieger) eingeweiht sind, und dass Nathan angesichts der politischen Verhältnisse Jerusalems gefährlich werden, ja das Leben kosten könnte.
Von einer langen, geschäftlich außerordentlich erfolgreichen Reise zurückgekehrt, erfährt Nathan, dass Recha beinahe bei einem Brand ums Leben gekommen wäre. Nur das beherzte Eingreifen eines jungen christlichen Tempelherrn (hitzköpfig-aufbrausender Charakter: Maximilian von Ulardt) hat die Katastrophe verhindert. Nathan möchte dem Retter für seine Tat danken, stößt aber, als Jude, bei diesem auf schroffe Ablehnung.

Sultan Saladin (Palästinenser-Tuch als Accessoire seines ganz europäischen Leinen-Anzugs mit Weste und Einstecktuch: Mike Kühne) lässt Nathan zu sich rufen. Das mühsam austarierte Gleichgewicht zwischen Christen, Muslimen und Juden könnte nach Ansicht des Derwischs und des Patriarchen von Jerusalem (beide Rollen am WLT gestrichen) aus der Balance geraten, sollte Nathan als Bankier des Sultans größeren Einfluss am Hof Saladins gewinnen (ein Aspekt, der in dieser Inszenierung keine Rolle spielt).
Im Kreuzfeuer der Interessen und der flugs angezettelten Intrigen überstürzen sich die Ereignisse, bis mit der wundersamen Klärung der Familienverhältnisse auch der gesellschaftliche Frieden im Sultanat wiederhergestellt wird: Mit Hilfe von Saladins Schwester Sittah (Samira Hempel) und dem Klosterbruder stellt sich der Tempelherr und Retter Rechas als ihr Bruder heraus, schließlich Saladins und Sittahs verschollener Bruder Assad als beider Vater. Recha besteht dennoch auf Nathan als ihren eigentlichen, geistigen Vater...
Da sich nicht absehen lässt, ob in dieser Spielzeit 2020/21 überhaupt noch vor Publikum gespielt werden kann vor den Sommerferien, hat sich das in Castrop-Rauxel beheimatete Westfälische Landestheater (WLT) dazu entschlossen, Stücke aus dem Repertoire in neunzigminütigen Corona-Fassungen ohne Pause wie Lessings Klassiker „Nathan der Weise“, Premiere war in zahlenmäßig größerer Besetzung bereits am 8. April 2018 in der Stadthalle am Europaplatz, aber auch ausgewählte, noch nicht öffentlich gezeigte Produktionen der laufenden Saison aufzuzeichnen.
Alessia Vit, WLT-Pressesprecherin: „Auch wenn wir derzeit nicht für unser Publikum auf der Bühne stehen dürfen, muss niemand auf Theater verzichten. Unsere Aufzeichnungen ausgewählter Neuproduktionen sowie einzelner Repertoirestücke geben den Theaterinteressierten, darunter auch Kindergärten und Schulen, und uns Theaterleuten die Möglichkeit, in den kommenden Wochen weiterhin Kontakt zu halten. Anstelle des gemeinsamen Theaterbesuchs können Interessierte nun alleine, mit der Familie oder Freund*innen verschiedene Produktionen des Westfälischen Landestheaters digital über vimeo.com genießen. Das Angebot soll auch nach einer Wiedereröffnung der Theater zur Verfügung stehen.“
Die Preisgestaltung ist äußerst moderat: Für Repertoirestücke wie „Verräter“ und „Nathan der Weise“ müssen sechs Euro pro Ticket, für Neuproduktionen der Spielzeit 2020/21 wie „25 km/h“, „Der Trafikant“ und „Lügen haben junge Beine“ im Bereich Abendtheater 9 Euro pro Einzelticket, im Bereich Kinder- und Jugendtheater 6 Euro pro Einzelticket sowie im Bereich Musikalische Produktionen 15 Euro pro Einzelticket gezahlt werden. Schulen und Kindergärten zahlen 6 Euro pro Einzelticket, WLT-Kooperationspartner 4 Euro pro Einzelticket.
Auftakt am Montag, 19. April 2021, ist nicht von ungefähr Gotthold Ephraim Lessings Schauspiel „Nathan der Weise“, gehört dieser Klassiker doch zum Kanon des nordrhein-westfälischen Zentralabiturs. Weshalb die Kooperationsschulen des WLT bereits vorab die Möglichkeit zum Streamen der nunmehr auf pausenlose neunzig Minuten gekürzten und teilweise neu besetzten Produktion hatten, die Markus Kopf unter Corona-Bedingungen (kaum ins Gewicht fallender Plastik-Mundschutz der Schauspieler) neu inszenierte in der Ausstattung von Manfred Kaderk. Die in einer bunkerähnlichen Wartehalle mit Schließfächern, Plastik-Schalensitzen und Cola-Automat spielt: Historische Bezüge des mehr als zweihundert Jahre alten Stoffes fehlen ebenso wie holzhammerartige Verweise auf die Gegenwart im Nahen Osten.
Das emotionsgeladene, stark körperbetonte Spiel des überwiegend jungen WLT-Ensembles fokussiert vor dem Hintergrund von religiös motiviertem Hass, von Vorurteilen und Vernichtungsphantasien auf die Liebesgeschichte zweier junger Menschen, deren familiäre Herkunft eine solche verbietet: Am Ende herrscht stumme Ratlosigkeit, wo im Prolog noch die Utopie eines fröhlich-unbeschwerten Miteinanders beschworen worden war. Vor diesem Hintergrund erhält Nathans universelle Parabel von einem Vater und drei Ringen eine ganz aktuelle Bedeutung.