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Anna Drexler, Anne Rietmeijer, William Cooper (hinten) und Damian Rebgetz in „Das neue Leben“.

Dante-Abend im Schauspielhaus Bochum

Das neue Leben

Damian Rebgetz, der hochgewachsene australische Schauspieler und Performer, neben der belgischen Grand Dame des flämischen Theaters, Viviane De Muynck, Gast im phantastischen fünfköpfigen Dante-Ensemble, schreitet über die neun konzentrischen Kreise des Bühnenbodens zum elektrischen Klavier, das in den folgenden 130 Minuten am rechten Rand ein stets Heiterkeit im Publikum hervorrufendes Eigenleben führt. Wenig später besteigt Anna Drexler linkerhand eine schwindelerregend hohe Leiter, um die Zahl Neun zwischen die Sprossen eines Fensterladens zu klemmen als sei das Schauspielhaus eine Kirche und das Parkett aufgerufen, das Liederbuch aufzuschlagen. Wo doch nun zumindest wieder Chorgesang erlaubt ist in unseren Gotteshäusern.

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Diese Assoziation liegt durchaus nahe beim autobiographischen Frühwerk „Vita nova“, das Dante Alighieri zwischen 1292 und 1295 verfasste als mit 31 lyrischen Gedichten durchzogene Abfolge narrativer und erklärender Erzählungen. Es bildet den Schwerpunkt des ersten Teils des Bochumer Regiedebüts Christopher Rüpings, „Das neue Leben – Where do weg o from here“, der mit seiner „Inszenierung des Jahres 2021“, „Einfach das Ende der Welt“ am Schauspielhaus Zürich, die ab Februar 2022 auch in Bochum zu erleben sein wird, der Herner Schauspielerin Maja Beckmann zum Titel „Schauspielerin des Jahres 2021“ verhalf.

Das Beste kommt zum Schluss: Viviane De Muynck, die Grand Dame des flämischen Theaters.

Rebgetz in slaptickhaftem Denglish, Drexler, Anne Rietmeijer (als Solveig in „Peer Gynt“ zur „Nachwuchsschauspielerin des Jahres 2021“ gewählt) und William Cooper schlüpfen, zunächst bei vollem Saallicht, abwechselnd in die Erzähler-Rolle und damit in die Dante Alighieris, der sich als Neunjähriger unsterblich in Beatrice verliebte und ihr seine Liebe, als er sie neun Jahre später wiedersieht, nicht gestehen kann. Überhaupt zieht sich die Neun wie ein Roter Faden durch das so tragisch endende „neue Leben“. Das Darsteller-Quintett arbeitet sich freilich nicht – nur – am Text ab, sondern kommentiert, ja diskutiert das Gesagte und in kurzen szenischen Miniaturen Gespielte. So will William Cooper wie ein Regisseur auf einer Probe zeigen, wie Dante – endlich – seiner Beatrice eine Liebeserklärung unterbreitet. Und scheitert furios: „Ich krieg’s jetzt gerade auch nicht hin.“

Furios ist das Stichwort: Nach langer Corona-Pause wird wieder live gespielt auf den Brettern an der Bochumer Königsallee, die Spielfreude aller springt Eins zu Eins über die Rampe. Zumal das Publikum mehrfach angesprochen, wenn nicht gar einbezogen wird. „Elke“ lautet das Stichwort, gespoilert wird hier aber nicht. Besonders Anna Drexler kann sich als von allen Furien gehetzte Beatrice auszeichnen: Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ wäre zu dieser grotesken Emphase der passendere Pop-Song gewesen statt Britney Spears‘ „Baby One More Time“.

Apropos Soundtrack. Whitney Houstons Abschiedssong „I Will Always Love You“, Meat Loafs Treuebekenntnis „I Would Do Anything für Love“ und Natasha Bedingsfields Offenbarung „These Words“ sollen, so die Intention des Dramaturgen Vasco Boenisch und des Regisseurs, Dantes Liebes-Erzählung in die heutige Zeit weitertragen. Dass Musik Emotionen geradezu intravenös überträgt, beweist ein geradezu anrührender Damian Rebgetz, wenn er aus dem Off kommend das Meat Loaf-Duett Rietmeijer/Drexler ergänzt. Die Liederabende Franz Wittenbrinks sind freilich unterhaltsamer, kurzweiliger, pointierter. Hier aber waltet die große Kunst, und die ist, zumindest in der ersten Stunde, nicht ohne Anstrengung zu haben. Gut, dass es keine Pause gibt. Denn das Beste kommt zum Schluss.

Aber zuvor geht’s im zweiten Teil, naturgemäß im Schnelldurchgang, durch die neun Kreise der Hölle, die Dante in seiner von 1307 bis 1320 verfassten „Commedia“ durchschritten hat, aber auch über die neun Stufen des Läuterungsberges mit der Aussicht auf die neun Sphären des himmlischen Paradieses. Sodass noch nicht alles verloren ist, welch‘ Hoffnungsschimmer in diesen unseren pandemischen Zeiten. Dazu lässt der Bühnenbildner Peter Baur ein Pendel mit gleißendem, das Publikum immer wieder blendendem Licht über die neun Kreise schwingen. Die Windmaschine wird angeworfen und ganze Batterien hüllen die Bühne in Nebel, als düstere Gestalten wie aus Dantes Inferno, aber auch eine muntere grüne Raupe, über die Bühne tapern (Kostüme: Lene Schwind): das Theater kann endlich wieder alle Register ziehen.

Dann ist der Spuk vorbei und, im dritten Teil der am Premierenabend des 10. September 2021 heftig umjubelten Abends, ist kontemplative Erholung angesagt. Mit der großen belgischen Schauspielerin Viviane De Muynck als alte, altersweise Beatrice – und als Figur des Autors Dante Alighieri, die sich von ihrem Erzeuger emanzipiert: „Jung war ich schon, alt bin ich nicht geworden.“ Jedenfalls nicht zwischen zwei Buchdeckeln. Die „Fußnote in einem Buch, das niemand liest“ entlarvt die unerklärte Liebe als egoistisches Dichter-Material und spendet Trost, wenn es nur zur Liebe in Gedanken reicht: „Leben mit dem, was ist. Aushalten, dass nicht geworden ist, was nicht war.“ Und dann noch ein zwar melancholischer, aber auch optimistischer Rausschmeißer, der noch lange im Ohr bleiben wird: „Eine gute Nachricht“ von Danger Dan.

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Die nächsten Aufführungen: Am 12. und 19. September sowie am 10. Oktober 2021, Karten unter schauspielhausbochum.de.

Vergangene Termine (3) anzeigen...
  • Sonntag, 12. September 2021
  • Sonntag, 19. September 2021
  • Sonntag, 10. Oktober 2021
| Autor: Pitt Herrmann