
Lehrstück über den Pakt mit dem Teufel
„Cabaret“ begeistert am WLT
Berlin um 1930 in den Amüsiervierteln zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Potsdamer Platz. „Willkommen, Bienvenue, Welcome“: Allabendlich begrüßt der Conférencier (Léon van Leeuwenberg) die Gäste des Kit-Kat-Clubs, die ungeduldig aud den Höhepunkt der Show warten, den Auftritt der attraktiven Sängerin Sally Bowles (Sabrina Pankrath). Von ihr ist sogleich auch ein junger Amerikaner fasziniert, Clifford Bradshaw (Tobias Schwieger).
Der Schriftsteller ist im Zug aus Frankreich in die Reichshauptstadt gefahren, um sich den „Tanz auf dem Vulkan“ aus der Nähe zu betrachten. Weil er als Ausländer nur sehr oberflächlich kontrolliert wird, hat ihm sein Gegenüber im Abteil, der Deutsche Ernst Ludwig (Mike Kühne), eine unscheinbare Aktentasche untergeschoben. Mit harmloser Schmuggelware, wie dieser Bradshaw später versichert und ihm als Dank ein billiges Quartier in der Etagenpension von Fräulein Schneider (Gabriele Brüning) besorgt.
Dort geht es hoch her – bei der horizontalen Schwerstarbeiterin „Fräulein“ Kost (ebenfalls Léon van Leeuwenberg) und bald auch in Bradshaws Zimmer, der sein Kopfkissen mit Sally Bowles teilt, was nicht ohne Folgen bleibt. Und offenbar abfärbt, denn die zarten Bande zwischen Herrn Schultz (großartiges Schauspiel-Debüt von Tankred Schleinschock), dem liebenswerten Obsthändler von gegenüber, und der personifizieren Tugend von Pensionswirtin münden in einer wundervollen Verlobung.
Die freilich nicht lange hält, weshalb Sally Bowles ihr Verlobungsgeschenk, eine Obstschale aus Kristall, zurückerhält: Der jüdische Herr Schultz ist nach der „Kristallnacht“ für Fräulein Schneider kein Heiratskandidat mehr, sie muss schließlich ans Geschäft denken. Und an Ernst Ludwig, der mit Genossen das unter die Haut gehende Lied „Tomorrow belongs to me“ anstimmt, in der am Westfälischen Landestheater gespielten deutschen Fassung von Robert Gilbert, die am 14. November 1970 am Theater an der Wien Premiere feierte, „Der morgige Tag ist mein“.

„Regierungen kommen, Regierungen gehen – und ich werde Orangen schälen“: Sally Bowles, wie Herr Schultz blind für die politischen Ereignisse so unmittelbar vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, lässt sich von Bradshaw weder zur Mutterschaft noch zur Fahrt über den Großen Teich in seine amerikanische Heimat überzeugen: Während er wieder im Zug nach Paris sitzt, steht sie auf der Bühne des Kit-Kat-Clubs: „Life Is A Cabaret“.
Das Musical „Cabaret“ von Joe Masteroff, John Kander und Fred Ebb, das seit der Uraufführung am 20. November 1966 am New Yorker Broadhurst Theatre seinen Siegeszug über die ganze Welt ungebrochen fortsetzt, ist jetzt in einer erfreulich konventionellen Inszenierung von Markus Kopf herausgekommen – als Lehrstück über den Pakt mit dem Teufel, dem zunächst nur schleichend wahrnehmbaren, dann immer stärker werdenden und schließlich nicht mehr zu leugnenden Aufstieg der Nazis in der Reichshauptstadt Berlin.
Deren Wahrzeichen, das Brandenburger Tor, allmählich untergeht als dankenswerterweise einziger Bezugspunkt zur aktuellen politischen Lage in unserem Land neben einem Programmheft-Beitrag zur Potsdamer Neonazi-Konferenz Ende November vergangenen Jahres. Kopf und seine Ausstatter Manfred Kaderk (Bühne) und Maud Herrlein (Kostüme) präsentieren zwar ein optisch wie musikalisch abgespecktes Musical (reduzierte Orchestrierung von Chris Walker). Die Musical-Fans brauchen aber, dem musikalischen Leiter Tankred Schleinschock, dem siebenköpfigen Lippe-Saiten-Orchester und herausragenden Darstellern sei gedankt, auf keinen der bekannten Songs aus dem Stück wie „Two Ladies“, „If You Could See Her through My Eyes“ oder „Married“ zu verzichten. Und auch nicht auf die erst für die 1972er Verfilmung geschriebenen Hits wie „Maybe This Time“, „Mein Herr“ oder „Money, Money“.
Mit Lesley-Ann Eisenhardt, frisch von der Schauspielschule, und Arikia Orbán, aus Parchim gekommen, stehen zwei Ensemble-Neuzugänge erstmals auf der WLT-Bühne. Als Gast glänzt Sabrina Pankrath in der Hauptrolle der Sally Bowles. Nach erfolgreichem Abschluss eines Musical-Studiums 2011 in ihrer Heimatstadt Berlin war sie u.a. am Theater am Kurfürstendamm und dem jungen Staatstheater an der Parkaue Berlin engagiert, hat danach in Schwedt, Plauen-Zwickau und Frankfurt/Oder aber auch große Schauspiel-Rollen wie Margarete in Goethes „Faust“ oder Stella in Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“ gespielt. Als ensembledienlicher „Star“ genau die richtige Besetzung für Markus Kopfs Regiekonzept, das am Premierenabend des 14. Juni 2024 nach zweieinhalb Stunden mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.