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Haarige Angelegenheit mit Gina Haller, William Cooper, Jing Xiang, Lukas von der Lühe, Veronika Nickl und Abenaa Prempeh (v. li.).

An den Haaren herbeigezogen

'100 % peruanisch-amazonisches Haar'

„Es gibt Menschen, weit außerhalb unserer Grenzen, die Haare sammeln, und andere Menschen, die sie sortieren, auswählen, kämmen, locken, bleichen, färben, trocknen, knoten, kleben, vernähen, checken und verpacken. Menschliches Haar reist ununterbrochen um die ganze Welt. In Umschlägen, Säcken, Plastiktüten, Paketen.“

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Das ist der Ausgangspunkt einer szenischen Installation der Autorin, Musikerin und Regisseurin Manuela Infante am Schauspielhauses Bochum, deren ursprünglicher Titel „Verflechtungen. Das Leben der Haare“ den Theatermachern von der Königsallee zu trocken erschien. Doch der neue Titel ist nicht wirklich griffiger, sondern nur haarsträubend komplex: „100% peruanisch-amazonisches Haar“. Und so wenig einladend, dass die Kammerspiele zur Uraufführungs-Premiere noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt waren – die zahlreichen Angehörigen des Hauses abgerechnet.

Bescheidener Rahmen

Die bescheidene Rahmengeschichte geht so: Einer Schauspielerin in den besten Jahren (Veronika Nickl), die seit 15 Jahren auf der Bühne die Mutter von Ludwig XIV. spielt, gehen die Haare aus. Ob aus medizinischen Gründen oder einfach nur altersbedingt, sie fallen nach und nach aus. Also besorgt sie sich aus dem Fundus des Theaters eine Echthaar-Perücke. An Männer ihres Alters mit schütterem Haar oder gar Glatze hat sich die Gesellschaft gewöhnt. Doch die Küchenweisheit, nach der der Geist kommt, wenn die Haare gehen, gilt nach wie vor nicht für Frauen.

Mit dieser Perücke, die, warum auch immer, einem DNA-Test unterworfen wird, der 159 verschiedene Spuren ergibt, beginnt eine vor allem kulturgeschichtliche Reise rund um den Globus, die besagte Haare zurücklegen, bis sie zur Kopfbedeckung werden, die zumal im Fasching auch „Pudel“ genannt wird. Wir lernen, dass der französische Sonnenkönig schon früh sein Haupthaar verlor, sodass die Perückenfertigung im 17. Jahrhundert ihren Anfang genommen hat. Und das dafür vor allem Menschen in den Kolonien ihr Haar lassen mussten, und zwar nicht immer freiwillig. Schließlich, dass heute vor allem das als besonders widerstandsfähig geltende Haar aus Peru gefragt ist. 100 Prozent peruanisches Haar also. Aber amazonisch? Achtung, Spoiler: Weil Amazon es uns ins Haus bringt.

Postkoloniale Kapitalismus-Kritik

Dieses, so die Bochumer Dramaturgie, irrwitzige, ironische und spielerische Gewirr von Erzählungen, die man als Geschichte über Haare bezeichnen könnte, ist nichts weniger als eine an den Haaren herbeigezogene Kapitalismus-Kritik aus postkolonialer Sicht. Aber vom sechsköpfigen Ensemble, noch zu nennen William Cooper, Gina Haller, Abenaa Prempeh, Jing Xiang und Lukas von der Lühe, mit Hingabe gespielt in einer grandiosen, als artifizielles Environment durchgehenden Ausstattung von Rocío Hernández Marchant (Bühne) und Lara Suppe (Kostüme).

Lustvolles Theater-Spiel mit Gina Haller, Veronika Nickl, Abenaa Prempeh, Jing Xiang, Lukas von der Lühe und William Cooper (v. li.).

In der Mitte ein Baum, gebildet aus überdimensionalen Rasta-Zöpfen in Schiffstau-Stärke, in den Jing Xiang geradezu eintaucht. Er überragt eine Szenerie mit umgekipptem Mobiliar wie nach einer Windhose. Gina Haller trägt Braids, andere gewaltige Perücken, welche die im Rokoko üblichen Turmfrisuren glatt in den Schatten stellen. Zur Auflockerung eine Art „Reise nach Jerusalem“-Spiel, nur dass sich alle nacheinander auf den einzigen noch auf vier Beinen stehenden Sessel drücken.

Ein Leben für das Theater

„Sie sagen, ich sei nicht mehr ich selbst“ erklingt, kanonartig versetzt, die chorisch vorgetragene Klage besagter Schauspielerin: „Sie sagen, ich zerfalle, nichts mehr von meinem Glanz.“ Die Intendanz hat die 62-Jährige nach Hause geschickt, die der Kahlstellen am Kopf wegen nun daheim die Zeit totschlagen muss. Und das nach einer mehr als dreißigjährigen Bühnenkarriere! Für die sie auf Kinder, auf Tiere, ja sogar auf Pflanzen in den eigenen vier Wänden verzichtet hat.

Es gibt keine festen Rollen, also auch keine Rollenzuschreibungen. Und dennoch gelingt es dem bestens aufgelegtem Ensemble immer wieder, aus der Rolle zu fallen – etwa mit Szenenanweisungen an die Kollegen. Zu Panflöten-Tönen fällt der Haar-Baum in sich zusammen, begleitet von einem fröhlichen pantomimischen Intermezzo über die ganze Bühnenbreite. Kleine Geschichten wie das Haar in der Suppe, das König Ludwig in Rage versetzt, dadaistische Wort-Akrobatik und steile, aber witzig vorgetragene Thesen halten das Publikum bei Laune, obwohl sich das „Stück“ von Hölzchen auf Stöckchen verzettelt.

Nach „Noise. Das Rauschen der Menge“ nun eine zweite höchst ungewöhnliche Produktion der chilenischen Theatermacherin Manuela Infante. Ein neunzigminütiger ungemein dichter, so poetischer wie platter Abend über haarige Angelegenheiten wie das Altern, gängige Schönheitsideale und die Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt, der vorerst nur noch zweimal auf dem Spielplan steht.

Weitere Aufführungen

  • Sonntag, 16. Juni 2024, 19 Uhr (Einführung um 18:30 Uhr)
  • Mittwoch, 3. Juli 2024, 19:30 Uhr (Einführung um 19 Uhr).

Karten gibt es online oder Tel. 0234 – 3333 5555.

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  • Sonntag, 16. Juni 2024, um 19 Uhr
  • Mittwoch, 3. Juli 2024, um 19:30 Uhr
Donnerstag, 13. Juni 2024 | Autor: Pitt Herrmann
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