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Das Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung.

1933 - Das Jahr der Machtergreifung

Hernes Weg in die Diktatur

Es ist ein echtes Mammut-Projekt, das der Herner Historiker und Publizist, Ralf Piorr, mit seinem neuesten Buch vorlegt: 1933. Der Weg in die Diktatur in Herne und Wanne-Eickel. Tag für Tag hat er aufgezeichnet, wie das Leben 1933 in Herne und Wanne-Eickel aussah - im Politischen, im Kulturellen und im Sozialen. 1933: das Jahr in dem die Nazis erstarkten und an die Macht kamen.

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Ralf Piorr legte sein neues Buch vor. Das Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung.

Mit diesem Buch, das nicht als historisches Fachbuch daher kommt, will Piorr der Frage nachspüren: „Wie hat es die NSDAP geschafft, in zwei klassischen Bergarbeiter-Städten wie Herne und Wanne-Eickel, in denen in den Jahren zuvor immer die Kommunisten mit Abstand die stärkste Partei war, wie haben die Nazis es geschafft, ihre Macht zu etablieren?“ In einem Prolog führt er den Leser in die damalige Zeit ein, beleuchtet das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in einer Zeit, in der sich die beiden Bergarbeiterdörfer Herne und Wanne-Eickel zu einem industriellen Ballungsraum entwickelten und eine Freizeitkultur mit Fußball, Taubenzucht und Kleingärten entstand.

Die Chronik-Form

Bewusst hat sich Piorr für eine ungewöhnliche Form für seine Chronik entschieden: für die Form des literarischen Tagebuchs, ein Novum auf lokaler Ebene. Vorbild sei ihm dafür das Buch des Journalisten Florian Illies, „1913“, gewesen, das sich den politischen und kulturellen Ereignissen des letzten Jahres vor dem Ersten Weltkrieg mit dieser Form annähert. „Mein Buch ist der Versuch, den Leuten zu zeigen: Was waren Herne und Wanne-Eickel 1933 für Städte? Wie sah das Leben 1933 aus? Was haben die Leute gedacht und wie haben sie sich verhalten? Wie veränderte sich der gesamte Alltag im Laufe des Jahres?“, erklärt Piorr seine Absicht. Veränderungen, die auch vor den Werbe-Anzeigen in den damaligen Zeitungen nicht halt machten, in denen plötzlich von 'Das Deutsche Geschäft' oder 'Das Christliche Geschäft' die Rede war.

Der Sound der Zeit

Anzeige aus dem Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung. 30. Januar Hitler wurde Reichskanzler.

Piorr will den Sound der Zeit wiedergeben: „Ich wollte zum Beispiel zeigen, was für Kämpfe es gegeben hat, als am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde.“ Damals sei den Menschen noch nicht klar gewesen, was passieren würde. „Heute schauen wir natürlich mit Abstand auf die Geschehnisse und wissen, wohin die Reise ging.“ Nicht wenige glaubten Anfang 1933 noch, es würde zu einer kommunistischen Revolution kommen. Diesen Spannungsbogen will seine Chronik sichtbar machen. „Die Tagebuchform hat den Vorteil, dass man den starken Hype, der um die Nazis gemacht wurde, sehr genau ablesen kann", ist sich Piorr sicher.

Der Alltag ging weiter

Damit der Leser versteht, „was damals abgegangen ist," zählt Piorr nicht nur politische Begebenheiten auf, sondern wählt eine spannende Mischung aus sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ereignissen, um Tag für Tag aufzuzeigen, wie dieser schleichende Prozess von Statten ging: Die Nazis knüppelten Kommunisten zusammen und schickten sie ins KZs, und es wurde trotzdem weiter Fußball gespielt, es wurde trotzdem weiter getanzt.

Aus dem Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung. Aufmarsch zur Reichstagswahl im November 1933.

„In diesem Jahr fand eine unglaubliche Entsolidarisierung statt“, erzählt Piorr. „Und man kann quasi ablesen, wie schwer es dann fällt, demokratische Werte zu verteidigen.“ Das sei auch eine Lehre für heute, zumal das Buch auch im Kontext der selbsternannten 'Besorgten Bürger'-Aktionen entstanden sei. Für den Historiker ist das Buch nicht nur historisches Material, sondern man könne es durchaus mit einer politischen Aktualität lesen.

Das Buch zeigt anschaulich, wie die Macht der Nazis schnell und stetig größer wurde. Piorr: „Das Erstaunliche ist doch: Am 30. Januar hast du noch eine Demokratie und nur vier Monate später ist es ein Ein-Parteien-Staat, mit sich ständig radikalisierenden Maßnahmen, die fast eine ganze Gesellschaft mitzogen.“ Wobei, der Teil der nicht mitzog, zusammengeknüppelt wurde - von der Schutzpolizei, von der SA, von den Hilfspolizisten. Dazu wurden auf Geheiß von Hermann Göring „wegen der zunehmenden Ausschreitungen von linksradikaler und kommunistischer Seite“ Angehörige der SA und SS als Hilfspolizisten eingesetzt (S.67).

Die Einträge berichten von Terror, Fahnen-Aufmärschen, Musikzügen und Judenhetze. Sie belegen zudem, in welcher Öffentlichkeit das alles stattgefunden hat. Die Nazis machten 1933 noch keinen Hehl daraus, dass sie KZs einrichteten und Kommunisten zusammenknüppelten. Das alles lancierten sie ganz bewusst in die Presse, um damit Angst zu schüren und zu zeigen, wer die Macht hat.

Aus dem Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung. Werbung für den Volksempfänger.

„Um uns heute bewusst zu machen, warum die Nazis am Anfang bei so vielen Menschen noch gut ankamen, ist es wichtig zu wissen, dass die Nazis zwei Eigenschaften hatten: die waren modern, also technisch aufgeschlossen, und die waren jung“, erklärt Piorr. Sie führten die lateinische Schrift in den Amtsstuben ein, gaben die Volksempfänger in die Massenproduktion, Göbbels förderte die Filmindustrie. Kluge Schritte, denn in Zeiten ohne Handy, Internet und Fernsehen brauchte man die Volksempfänger als Massenmedium, um die Propaganda unters Volk zu bringen. Gleiches gilt für die Wochenschauen in den Kinos.

Persönliche Geschichten

Aus dem Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung. 1939, die Familien Günzburger in Amsterdam.(3. v.r. Gerda, geb. Elias)

Ein Hauptaugenmerk legt Piorr in seinem Buch auf die persönlichen Geschichten und Schicksale. Da ist zum Beispiel die Abiturientin Gerda Elias, die eigentlich Ärztin werden wollte und ihren Traum in weite Ferne rücken sah, als sie zur Abiturfeier im März 1933 kam und die große Hakenkreuzfahne im Saal sah (s.87). Am 5. Juli ist dann zu lesen, dass Gerda Deutschland verlässt und ihrem Freund, Fritz Günzburger, Kommunist und Jude, nach Frankreich folgt. In Deutschland darf Günzburger zu dieser Zeit sein Jura-Studium nicht fortsetzen (S.185).

Persönliche Schicksale hat Piorr auch über 1933 hinaus verfolgt: Im Epilog - Was aus ihnen wurde: Opfer, Täter und Profiteure - erfährt der Leser in Kurz- Beiträgen, was aus 19 Menschen nach 1933 geworden ist.

Kein Nazi-Pin-Up-Porno-Kalender

Wann immer es ging, hat sich Ralf Piorr bewusst gegen Nazi-Symbolen im Vordergrund entschieden. „Ich wollte keinen Nazi-Pin-Up-Porno-Kalender produzieren“, erklärt er. „Mir ist bewusst, dass es eine gewisse Faszination gibt und sobald du ein Nazi-Symbol zeigst, wird deine Publikation besser verkauft.“ Und so zeigt sein Titelfoto zwar auch eine Hakenkreuzfahne, aber im Fokus stehen die Zuschauer.

Recherche-Team

„Diese Chronik war sicherlich eines meiner aufwendigsten Projekte, das ich bisher gemacht habe,“ bekennt Piorr. Allerdings stemmte der Autor das Mammutprojekt nicht alleine, ihm stand ein elfköpfiges Recherche-Team zur Seite. „Ohne das Team der DGB-Geschichtswerkstatt hätte ich das in diesem Zeitraum nicht geschafft.“ Und das waren immerhin vier volle Jahre. Gemeinsam mit Piorr haben Norbert Arndt, Norbert Bartsch, Rolf Dymel, Alina Gränitz, Jörg Höhfeld, Udo Jakat, Dirk Jessen, Guntram Lange, Flemming Menges, Ulrich Objartel und Birte Wolmeyer das umfangreiche Material im Vorfeld gesichtet.

Das Buch: 1933 - Das Jahr der Machtergreifung. Boykott des Geschäfts 'Gebrüder Rindskopf' Bahnhof-Behrensstraße.

Sechs verschiedene Tageszeitungen gab 1933 in Herne und Wanne-Eickel. 1.500 Tageszeitungen wurden von der Gruppe akribisch gesichtet und vorsortiert - Anzeigen, politische Geschichte und alltägliche Geschichte. „Wobei die Zeitungen von damals Bleiwüsten waren - mit vereinzelten Fotos“, versucht Piorr die viele Arbeit zu veranschaulichen. Daraus habe er als Autor das Gesamt-Bild erstellt, und entschieden „was letztendlich für den Leser wichtig ist.“

Das alles sei ein wahnsinniger Prozess gewesen. Doch Piorr ist sicher, dass sich diese Arbeit gelohnt hat: „Die Chronik stellt historische Grundlagenarbeit dar: Es wurden viele bisher unbekannten Quellen und Dokumente recherchiert, die dann zu einer vielstimmigen Erzählung zusammengestellt wurden. Dabei stehen die Geschehnisse in Herne und Wanne-Eickel durchaus beispielhaft für andere klassische Bergbaustädte des Reviers.”

Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt unter anderem von dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und der Kulturinitiative Herne.

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Das Buch ist im adhoc-Verlag erschienen und ab sofort im Buchhandel für 25 Euro erhältlich. ISBN 978-3-9814087-6-8

| Autor: Carola Quickels
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