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Kino-Tipp: Systemsprenger. Helena Zengel als Benni.

Als deutscher Beitrag für „Oscar“ nominiert

Systemsprenger

Benni (fulminant, Oscar-würdig: Helena Zengel) ist wild, aggressiv und unberechenbar. Selbst in der Klinik, wo die Ärzte am zarten Körper der Neunjährigen zahlreiche Hämatome feststellen. Die offenbar nicht nur auf Fremdeinwirkung schließen lassen: Bernadette, so ihr eigentlicher Name, hat schon alles durch: Pflegefamilien, Wohngruppen, Sonderschulen. Überall ist sie nach kurzer Zeit wieder rausgeflogen. Denn dieses nervenaufreibende Schreikind ist nicht zu bändigen, ist, so der offizielle Terminus im Jugendamt, ein „Systemsprenger“. Weshalb sich ein älterer Erzieher wie Wolfgang (Matthias Brenner) die Zeit zurückwünscht, in der man solche Kinder noch wegsperren durfte.

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Dabei will Benni doch nur eines: zurück zu ihrer Mutter Bianca Klaaß (Lisa Hagmeister). Doch die ist völlig überfordert mit ihrer Tochter, welche sich nach traumatischen Erfahrungen in frühester Kindheit mit einer vor den Mund gepressten Windel selbst von ihrer Mutter nicht mehr im Gesicht berühren lässt. Bianca befürchtet nicht ganz zu Unrecht, dass Bennis Verhalten auf ihren kleinen Sohn Leo abfärben könnte. Und weiß genau, dass sie ihren Freund Jens (Roland Bonjour) verlieren würde, sollte sie Benni wieder daheim aufnehmen.

Weil niemand mehr die sozialunverträgliche Bettnässerin ertragen will, ist die warmherzige Maria Bafané (Gabriela Maria Schmeide) vom Sozialen Dienst verzweifelt. Die Kinderpsychiatrie ist keine Dauerlösung, wie Dr. Schönemann (Melanie Straub) klarstellt: Sie könne die Kleine für eine Nacht mit Neuroleptika für erwachsene Schizophrenie-Patienten ruhigstellen, im stationären Bereich aber sei nichts frei. Maria Bafané fällt dann doch noch Silvia Schwarz (Victoria Trauttmansdorff) ein, ihre erfahrenste und leidensfähigste Pflegemutter. Sie ist bereit, Benni zum zweiten Mal aufzunehmen – unter der Bedingung professioneller Hilfe. Die mit Michael „Micha“ Heller (Albrecht Schuch) gefunden wird, einem ausgebildeten Anti-Gewalt-Trainer für straffällige Jugendliche.

Maria und der coole Micha, der offenbar selbst so einiges erlebt hat und sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen lässt, setzen beim Jugendamt einen dreiwöchigen erlebnispädagogischen Aufenthalt in der einsamen Natur durch. Schon die Autofahrt wird zum explosiven Hardcore-Erlebnis für beide, dass sich in der Hütte ohne Strom und fließendes Wasser fortsetzt. Und beim Bauern Bockelmann (Axel Werner), bei dem Benni nur Milch holen soll und sich sogleich mit dem Hofhund anlegt. Dennoch: Micha und Benni bestehen die harte Probe in der Waldeinsamkeit. Und Letztere kann erstmals mit Stolz auf ein solches Erlebnis zurückblicken. Mit ungeahnten Folgen für den Schulbegleiter: Benni klammert sich an ihn, will auf Dauer bei ihm und seiner schwangeren Gattin Elli (Maryam Zaree) bleiben. Noch gerade rechtzeitig erkennt Micha die Gefahr des Kontrollverlustes, wenn er seine professionelle Distanz zu Benni verliert. Als deren Mutter plötzlich wieder auftaucht, nehmen die Dinge einen unvermuteten Lauf: Bianca ist bereit, sich wieder um Benni zu kümmern...

Systemsprenger geht volle 125 Minuten lang unter die Haut. Weil Autorin und Regisseurin Nora Fingerscheidt und ihr Kameramann Yunus Roy Imer eine dokumentarisch zu nennende Distanz zu den Figuren dieses fiktionalen, aber doch sorgfältig recherchierten Spielfilms wahren. Jede einzelne Szene des 2017/18 an opulenten 67 Tagen in der Lüneburger Heide, in Berlin und Hamburg gedrehten Films, so der das Projekt begleitende Düsseldorfer Professor für Intensivpädagogik Dr. Menno Baumann, habe sich in Deutschland genau so abgespielt. Hier gibt es keine Schwarz-Weiß-Malerei, kein Gut und Böse, kein Richtig und Falsch. Sondern nur Überforderung – bei allen Beteiligten. Und letztlich trotz gleich dreier am Ende anklingender Möglichkeiten eine Ausweglosigkeit, die Betroffenheit und Trauer auslöst. Bianca Klaaß ist nicht die „blöde Kuh, die sich nicht kümmert“, wie Maria Bafané zunächst urteilte. Und die Heimleiterin Redekamp (Barbara Philipp) kein Unmensch, wenn sie darauf besteht, ihre Schutzbefohlenen nicht länger den Gewaltausbrüchen Bennis aussetzen zu wollen. Es gibt Gründe für die Gewalt der Titelheldin, aber keine Rechtfertigung - und eine amtliche schon gar nicht: das Jugendamt muss im Sinne der Familie handeln und dabei das Gemeinwohl nicht außer acht lassen. Prof. Baumann: „'Systemsprenger' verlangt vom Publikum das, was Benni von jedem einzelnen mit ihr konfrontierten Erwachsenen verlangt: Auszuhalten, dass es auch diese Seite des Menschseins gibt.“

Die beim Cast erst achtjährige Helena Zengel in der Hauptrolle als wilde Benni ist ein Ereignis. Die Berlinerin hat bereits Filmerfahrung, so spielte sie 2017 die Hauptrolle Luca in Mascha Schilinskis Debüt Die Tochter, das 2018 auf der Berlinale lief: Luca will unbedingt verhindern, dass Mama und Papa nach ihrer Trennung wieder zusammenkommen. 2015 war sie im preisgekrönten Kurzfilm Route B96 von Simon Ostermann, in Looping von Leonie Krippendorf sowie in Baby Bichka von Anna Maria Roznovska. Nach Systemsprenger dreht Helena Zengel derzeit in den USA: Sie spielt an der Seite von Tom Hanks die weibliche Hauptrolle des neuen Films News of the World von Paul Greengrass.

Nora Fingerscheidt, Braunschweigerin des Jahrgangs 1983, die jetzt mit ihrer Familie in Hamburg lebt, wurde von Alan Clarkes Made in Britain aus dem Jahr 1983 mit Tim Roth als junger Neonazi inspiriert. Sie schrieb das Drehbuch zu Systemsprenger nach fünfjähriger Recherche und wurde dafür mit dem Emder Drehbuchpreis 2016, dem Berlinale Kompagnon-Förderpreis und dem Thomas-Strittmatter-Drehbuchpreis 2017 ausgezeichnet.

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Uraufgeführt am 8. Februar 2019 im Wettbewerb der 69. Berlinale und dort mit dem Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) ausgezeichnet, hat der Film weltweit mehr als zwanzig Preise erhalten ist zudem als deutscher Beitrag für den Auslands-Oscar nominiert: die Academy of Motion Picture Arts and Sciences verleiht die dann 92. Academy Awards voraussichtlich am 9. Februar 2020 in Los Angeles. Systemsprenger läuft derzeit in unserer Region im Casablanca und im Metropolis in Bochum, im Essener Rio und in der Dortmunder Schauburg.

| Autor: Pitt Herrmann