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Sam Riley als John Cranko – John Cranko (Sam Riley) liegt daheim neben dem Schallplattenspieler auf dem Fußboden und holt sich, bei Zigaretten und Rotwein, Inspirationen zu neuen Choreografien von immer dem gleichen Musikstück. Was seine wechselnden Lebensgefährten regelmäßig auf die Palme bringt.

Bewegendes Biopic

Sam Riley als 'John Cranko'

1960, als auch in Flugzeugen noch geraucht werden durfte, fliegt der so aufstrebende wie umstrittene Choreograph John Cranko (Sam Riley) von London, wo er als Homosexueller bei der britischen Königsfamilie in Ungnade gefallen ist, nach Stuttgart. Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler), Generalintendant der Württembergischen Staatstheater, hat ihn eingeladen, mit der Compagnie seines Freundes Nicholas Beriozoff (Stefan Weinert) zu arbeiten.

Als Einstieg wählt der gebürtige Südafrikaner des Jahrgangs 1927 sein 1954 in Oxford uraufgeführtes Werk „The Lady and the Fool“ zu Opernmusik von Giuseppe Verdi – und gerät erst einmal mit der Primaballerina Xenia Palley (Diana Ruiz) aneinander. Nach enormen Schwierigkeiten verpflichtet er die junge brasilianische Tänzerin Marcia Haydée (Elisa Badenes) an die Seite des 1. Tänzers Ray Barra (Jason Reilly) und holt weitere neue Tänzer in die vermeintliche Provinz Stuttgart wie Egon Madsen (Henrik Erikson), Richard Cragun (Martí Fernandez Paixà) und die junge Birgit Keil (Rocio Aleman). Letztere wird er für ein Jahr nach London schicken, damit sie sich vor allem persönlich weiterentwickeln kann.

Tanz statt vieler Worte

Nachdem Cranko bereits 1961 von Schäfer als Ballettdirektor verpflichtet wird, bereitet er mit „Romeo und Julia“ seine erste Stuttgarter Uraufführung vor – in den Titelpartien Marcia Haydée und Richard Cragun. Das Handlungsballett nach William Shakespeare wird im Dezember1962 mit stehenden Ovationen gefeiert. „Ich will mit Tanz sagen, was man mit Worten nicht sagen kann“: Cranko verzichtet auf sein Chefbüro, arbeitet lieber im Ballettsaal und in der Kantine, etwa mit dem noch unbekannten jungen Bühnenbildner Jürgen Rose (Louis Nitsche) und seinem musikalischen Berater Kurt Heinz Stolze (Sascha Göpel).

Sam Riley als John Cranko – Zwei Protagonisten seines Stuttgarter Balletts, auf die sich John Cranko verlassen kann: Marcia Haydée (Elsa Badenas) und Heinz Clauss (Friedemann Vogel).

Cranko hat mit seinen zahllosen Affären vom grobschlächtigen Lkw-Fahrer Kai (David Vormweg) bis hin zum jungen Tänzer Alexander (Gerrit Klein), den seine Eltern nach Südafrika schicken, kein Glück und zunehmend ein Alkoholproblem, weshalb ihm seine Muse Marcia Haydée mit Dieter Gräfe (Max Schimmelpfennig) und Eddie Dutton (Vincent Travnicek) zwei „Aufpasser“ ins Haus schickt. Mit seinem Ballett „Onegin“ wird die Stuttgarter Compagnie 1969 in die Metropolitan Opera New York eingeladen. Allerdings muss für Ray Barra, der sich beim Training so schwer verletzte, dass er nicht mehr tanzen kann und als Ballettmeister nach Berlin geht, ein Ersatz gefunden werden: Heinz Clauss (Friedemann Vogel), aus Hamburg abgeworben, wird zum neuen Star und die New York Times schreibt vom „Stuttgarter Ballettwunder“.

Triumph und Tod

Nachdem Cranko eine Inszenierung des Schauspiel-Regisseurs Peter Palitzsch (Marc Fischer) zum Thema Holocaust gesehen hat, lässt ihn das Thema nicht mehr los. Doch „Spuren“ hält dem deutschen Publikum zu unmittelbar den Spiegel eigener Vergangenheit vor, der Ballettchef wird gnadenlos niedergebrüllt. Und erhält postwendend eine Einladung zu einer großen USA-Tournee, die ein einzigartiger Triumphzug wird. Auf dem Rückflug 1973 bricht Cranko unvermittelt im Flugzeug zusammen…

John Cranko war einer der größten Choreographen der Tanzgeschichte, da er auch nach größten Erfolgen immer auf der Suche nach vollendeter Perfektion blieb. Er starb auf dem Höhepunkt seines inzwischen weltweiten Ruhms inmitten seiner „Familie“, die ihm stets am meisten bedeutet hat. Die Besetzung der Titelrolle mit dem britischen Landsmann Sam Riley ist ein genialer Schachzug: Als in Berlin lebender Ehemann der Schauspielerin Alexandra Maria Lara ist Riley ebenso wie der historische John Cranko der deutschen Sprache in erstaunlichem Maße mächtig.

Achtung: Spoiler!

Regisseur Joachim A. Lang („Führer und Verführer“, „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“) ist mit „Cranko“ ein zutiefst menschliches Drama einer fragilen und häufig einsamen Seele auf der Suche nach Anerkennung und Liebe gelungen, das – Achtung: Spoiler! – in den letzten der insgesamt 133 Minuten hochemotional wird: die Cranko-Stars und ihre Darsteller legen gemeinsam Rosen auf das Stuttgarter Grab dieses unbequemen und geradezu besessenen Ausnahmekünstlers.

Gedreht vom 20 März bis 30. April 2023 in Stuttgart, Köln und Umgebung ist „Cranko“ am 20. September 2024 im Württembergisches Staatstheater Stuttgart uraufgeführt worden und am 3. Oktober 2024 in den Kinos gestartet. Beim Deutschen Filmpreis 2025 gabs die „Lola“ für Juliane Maier und Christian Röhrs (Bestes Kostümbild).

Im Kino und bei Filmfriend

Im Rahmen des Kommunalen Kinos wird „Cranko“ am Dienstag, 3. Juni 2025, um 15 Uhr im Casablanca Bochum gezeigt. Nutzer der Stadtbibliothek Herne können Joachim A. Langs Film kostenlos bei Filmfriend streamen.

Montag, 2. Juni 2025 | Autor: Pitt Herrmann