
Kästner-Adaption von Volker Ludwig
Pünktchen trifft Anton
Mit Volker Ludwigs Kästner-Romanadaption Pünktchen trifft Anton kann ein Klassiker des Berliner Grips-Theaters, der 2013 auch bei den Ruhrfestspielen begeistert aufgenommen worden ist, gleich zweifach kostenlos gestreamt werden: Von Freitag, 29. Mai, bis Freitag, 5. Juni 2020, unter grips.online/sehen sowie am Pfingstmontag, 1. Juni 2020, für 48 Stunden im digitalen Spielplan auf nachtkritik.de
Den Pogges geht es gut. Papa (René Schubert) scheffelt als „cooler Immobilienhengst“ genug Kohle, damit seine Gattin Margie (Katja Hiller) sich für schlappe 980 Euro einen Glitzerfummel kaufen kann, um beim Empfang der Schweizer Botschaft als hauptstädtische Charity-Queen glänzen zu können. Ja, den Pogges geht es gut und sie helfen aus freien Stücken den anderen, denen es schlecht geht, vorzugsweise in der Dritten Welt.

Ihre Tochter Luise (begeistert auch in „Linie 1“: Jennifer Breitrück), seit frühester Kindheit nur „Pünktchen“ genannt, haben sie bei der Flut an beruflichen und wohltätigen Terminen schon immer ihrer „Perle“ Berta (stets eine „Bank“: Michaela Hanser) überlassen, welche nun nicht wirklich vom flippigen Au-pair-Mädchen Peggy (Alessa Kordeck) unterstützt wird, hat das US-Girl doch nur Augen (und Ohren) für ihr Sugar-Baby Bobby (Robert Neumann), mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft erträumt.
So fühlt sich „Pü“ nicht nur alleingelassen, sondern ist es auch mit ihren Ängsten und Alpträumen. Sie macht sich selbständig, nachts am Bahnhof Friedrichstraße, wo Peggy als Straßenmusikantin den Grundstock für ihr kleines privates Glück im großen Berliner Loft legen will. Der nette Murat (Jörg Westphal) von der Döner-Bude wird schon ein Auge auf sie haben, gleich vier steuert wenig später ein skurriles Penner-Pärchen bei (dolle szenische Miniaturen der „Grips“-Stammkräfte Regine Seidler und Christian Giese). Was auch nötig ist, denn hier geht’s (auch musikalisch) drunter und drüber: Warum heißt Berlin Spreeathen? Weil Berlin genauso pleite ist.
Pünktchen sieht einem gleichaltrigen, betont unauffälligen Jungen zu, wie er bei Murat Pfandflaschen versilbert: Anton (Florian Rummel), obwohl eine blendende Erscheinung, in die sie sich sofort verliebt, gibt sich kontaktscheu, geradezu abweisend. Und scheint das Lachen verlernt zu haben. Was für ein Geheimnis steckt hinter diesem kühlen Blonden? Pü ist entschlossen, diese Nuss zu knacken – und heftet sich an seine Fersen. Was dem umtriebigen Hauswartssohn Klette (nomen est omen: Roland Wolf, Spezialist für schwierige Rollen), der sogleich ein lukratives Spitzel-Geschäft wittert, leider nicht verborgen bleibt.
Pü dringt in eine für sie völlig neue Welt ein: Es gibt Menschen mitten unter uns, die es gar nicht geben dürfte. Weil sie nach Ablehnung ihres Asylantrages illegal in Deutschland leben, ständig von Abschiebung bedroht. Wie Anton und seine aus Weißrussland geflüchtete Mutter Ewa (Regine Seidler), die sich als Altenpflegerin ohne Sozialversicherung und daher ohne ärztliche Versorgung mehr schlecht als recht durchschlägt. Anton, ein vom Rektor (René Schubert) heimlich geduldeter Musterschüler, holt sich die Zutaten fürs warme Abendessen daheim aus den Mülltonnen der Supermärkte – und bringt dem Wohlstandskind erst einmal das Kartoffelschälen bei. Vor allem aber lernt Pü hier erstmals die Nestwärme einer Familie kennen. Arm, aber glücklich?
Klingt wie Wowereits allzu lockerer Berlin-Spruch („Arm, aber sexy“), welcher dem Rest der Republik, der seine Hauptstadt ja nicht erst seit der Wiedervereinigung mit Unsummen aus Steuergeldern subventioniert, mächtig auf den Keks geht. Volker Ludwigs Theaterstück „Pünktchen trifft Anton“ frei nach Erich Kästners realistischem Großstadt-Roman von 1931, das Ende November 2011 am Hansaplatz umjubelte Uraufführung feierte, steckt voller allzu lockerer Holzhammer-Sprüche („Ich hasse alle Reichen“). Sind Leute mit Geld tatsächlich ärmer dran, weil reich sein gleichbedeutend ist mit Schwein sein? Die zweieinhalbstündige Inszenierung von Frank Panhans kriegt diesbezüglich am Ende zwar so gerade noch die Kurve, ist aber dermaßen gespickt mit platten Schwarz-Weiß-Zeichnungen (naturgemäß bekommen auch die tumben Bullen wieder ihr Fett weg), dass einem bisweilen die Spucke wegbleibt – und der Spaß vergeht.
Der ansonsten ganz gripsmäßig ausfällt. Woran das tolle Ensemble ebenso seinen Anteil hat wie die vierköpfige Liveband rechterhand im Obergeschoss der an wandlungsfähigen Spielstätten so reichhaltigen Einheitsbühne der beiden Ausstatter Jan A. Schroeder und Maria-Alice Bahra. Und nicht zuletzt die Musik Wolfgang Böhmers: Fetzige Ensemble-Tableaus (Choreographie: Thomas Langkau) wie der Friedrichstraßen-Song und die „Linie 1“-Reminiszenz „Hey du“ wechseln ab mit anrührenden Duetten wie „Ich hab dich gern“ mit Jennifer Breitrück und Florian Rummel über das speziell für Jungs so schwer über die Lippen zu kriegende Bekenntnis und „Zeit haben“ mit Jennifer Breitrück und René Schubert über das spezifische Vater-Tochter-Verhältnis bis hin zu hintergründig-witzigem Kabarett mit René Schubert und Christian Giese über Lust und Frust des Pädagogenstandes.