Spektakuläre Krimi-Oper im Essener 'Aalto'
Paul Hindemiths 'Cardillac'
E.T.A. Hoffmanns letzte vollständige Erzählung, „Das Fräulein von Scuderi“, im Herbst 1918 im „Taschenbuch für Liebe und Freundschaft“ erschienen, basiert auf einer von Johann Christoph Wagenseil 1697 in seiner „Chronik von Nürnberg“ geschilderten Begebenheit und spielt um 1680 im Paris König Ludwigs XIV.: Der Goldschmied René Cardillac ist von seinen künstlerischen Schöpfungen so besessen, dass er seine Kunden der Reihe nach ermordet, um die Preziosen wieder zurückzuerhalten.
Cardillacs Tochter Madelon ist mit dessen Gesellen Olivier verlobt, der das Doppelleben seines Schwiegervaters durchschaut und sich selbst der Justiz als Täter ausliefert, nachdem ein Offizier einen Messerangriff des Goldschmieds abwehrte und diesen dabei tödlich verletzte. Olivier schweigt beharrlich, um seine engelsgleich-zarte Braut zu schonen. Öffnet sich dann aber seiner einstigen Pflegemutter, der nunmehr 73-jährigen Romanautorin Fräulein von Scuderi, welcher er anonym ein Kästchen mit wertvollem Schmuck anvertraut hatte, das einst für die ermordete Prinzessin Henriette von England bestimmt war.
Als sich besagter Offizier bei dem Fräulein als Täter in Notwehr zu erkennen gibt, erreicht sie beim König eine Lösung, welche die Gefühle Madelons nicht verletzt und das Brautpaar mit tausend Louis ausgestattet in die Schweiz auswandern lässt.
Kunst und Leben
Der Librettist Ferdinand Lion hat aus dieser eher betulich-romantischen Liebesgeschichte, in der sich Hoffmann, selbst wohlbestallter Beamter, mit dem Spannungsverhältnis von Kunst und Leben auseinandersetzt, zusammen mit dem Komponisten Paul Hindemith eine packende, psychologisch grundierte Krimi-Oper über Versuchung, Sucht, Gier und Künstlertum geschaffen, die viel zu selten auf den Spielplänen steht.
Dabei bereitet die höchst abwechslungsreiche, zwischen Expressionismus, Neo-Barock, Neuer Sachlichkeit und Avantgarde changierende Musik selbst einem eher konservativen Publikum überhaupt keine Schwierigkeiten.
Potentieller Aufreger
Im Aalto Musiktheater Essen wird die im Vergleich zur revidierten vieraktigen Version von 1952 radikalere dreiaktige Erstfassung der Oper, die am 9. November 1926 an der Sächischen Staatsoper Dresden ihre Uraufführung erlebte, aufgeführt. In der sowohl der König als auch die Hoffmannsche Titelheldin gestrichen sind, dafür aber – in der Konzentration auf den Goldschmied Cardillac – die Figur eines jüdischen Goldhändlers eingefügt worden ist.
Welche die Ausstatterin Katrin Nottrodt für die Inszenierung des belgischen Altmeisters Guy Joosten, die bereits am 3. Februar 2019 an der Opera Vlaanderen herausgekommen ist, mit Kaftan, Schläfenlocken und langem Bart als chassidischen Juden ausgewiesen hat. Für die europäische Diamanten-Hauptstadt Antwerpen gewöhnlicher Alltag, für woke deutsche Theatermacher offenbar ein potentieller Aufreger, der gleich auf zwei eingeschobenen Programmheft-Seiten „kontextualisiert“ wird.
Anklänge an Fritz Lang
Die nach rund einhundert pausenlosen Minuten am Premierenabend des Samstag (6.12.2025) umjubelte Aufführung unter der musikalischen Leitung des international gefragten Gastdirigenten Patrick Lange führt in die Zeit der 1920er Jahre mit deutlichen Anklängen an den Stummfilm „Metropolis“, aber auch an Fritz Langs ersten Tonfilm „M“ von 1931 über einen psychopathischen Kindermörder. Masse Mensch: Dunkle Gestalten, durch Projektionen auf den Gazevorhang verstärkt, wuseln als Volk über die Bühne, in deren Mitte die „brennende Kammer“, ein rotglühender Höllenorkus.
Die ganz in schwarze Uniformen gesteckten Andreas Hermann (Offizier), der Geliebte von Cardillacs Tochter (Betsy Horne), und Samuel Furness (Kavalier), der für seine offenherzige „Dame“ (Astrik Khanamiryan) das kostbarste Geschmeide Cardillacs erwerben soll, kommen warum auch immer wie SS-Offiziere ‘rüber.
Der Künstler als Psychopath
Im Mittelpunkt der Oper wie der Inszenierung aber der Titelheld, der im Hermelinmantel wie ein absolutistischer König auftritt – bekrönt mit einer diamantenbesetzten Kostbarkeit, die bei Hoffmann noch für die heilige Jungfrau der Kirche St. Eustache bestimmt war. Aber heilig ist hier nichts und niemand, was besonders auf die „Dame“ genannte Sexarbeiterin zutrifft, die erst nach Erhalt des goldenen Geschmeides dazu bereit ist, sich an der Pole Dance Stange zu räkeln und mit dem Schwarzhemd von Kavalier unter die Bettdecke zu schlüpfen.
Heiko Trinsinger als Cardillac ist ein Ereignis: ein Psychopath, der sich als König geriert, der in seinem Goldschatz badet wie Dagobert Duck und mit einem Lächeln mordet wie Joker. Selten war der exzellente Bariton, seit 1999 Aalto-Ensemblemitglied, darstellerisch so gefordert wie hier als dem Wahnsinn verfallener Künstler.
Karten unter theater-essen.de oder unter Tel. 0201 81 22-200. Die weiteren Vorstellungen:
- Samstag, 13. Dezember 2025, 19 Uhr
- Freitag, 19. Dezember 2025, 19.30 Uhr
- Sonntag, 4. Januar 2026, 16.30 Uhr
- Mittwoch, 7. Januar 2026, 19.30 Uhr
- Freitag, 9. Januar 2026, 19.30 Uhr
- Donnerstag, 15. Januar 2026, 19.30 Uhr
- Sonntag, 25. Januar 2026, 18 Uhr
- Einführung jeweils 45 Minuten vor der Vorstellung
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- Freitag, 19. Dezember 2025, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 4. Januar 2026, um 16:30 Uhr
- Mittwoch, 7. Januar 2026, um 19:30 Uhr
- Freitag, 9. Januar 2026, um 19:30 Uhr
- Donnerstag, 15. Januar 2026, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 25. Januar 2026, um 18 Uhr