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Drei starke Frauen: Margarita Breitkreiz, Daria Nosik und Sabrina Reiter.

Neu im Kino: Kaviar

Nadja (die Castorf-Schauspielerin Margarita Breitkreiz, international ausgezeichnet für Marija) ist eine in Wien lebende gebürtige Russin, die als Dolmetscherin, eigentlich aber als Mädchen für alles dem skrupellosen Oligarchen Igor (Mikhail Evlanov) dient. Sie organisiert seine Termine, kauft in den Edelboutiquen der Kärntnerstraße die Handtäschchen für seine Geliebten und hat immer ein Arzt im Dienst- Parkschild für die Windschutzscheibe zur Hand, wenn es mal wieder besonders pressiert. Klar, dass Nadja für den eigenen Nachwuchs, dem überdies der Vater abhanden gekommen ist, die Zeit fehlt, weshalb sie eine „blaue Fee aus Pinocchio“ als Kindermädchen engagiert hat: Teresa (Berlinale-Shooting-Star Sabrina Reiter), eine in einer alternativen Wohngemeinschaft lebende Performance-Künstlerin mit leuchtend blau gefärbten Haaren.

Igor hat nicht nur mehr illegales (Bar-) Geld, als er zählen kann, sondern auch eine fixe Idee, die ihm bei Finanzverhandlungen in einem am Donaukanal gelegenen Büroturm gekommen ist: Er hätte gerne eine luxuriöse Villa auf der Schwedenbrücke nach dem Vorbild der Ponte Vecchio in Florenz. Eine Schnapsidee naturgemäß, unter der über den ersten Bezirk Wiens gestülpten Glasglocke der kakanischen Konservatoren war nur als einmalige Ausnahme das Haas-Haus gegenüber dem Stephansdom möglich. Seit diesem Mega-Skandal ist in diesem größten Freilichtmuseum Mitteleuropas kein Neubau mehr genehmigt worden.

Freilich, das kennt man ja bei den russischen Multimilliardären: Widerstand sind sie auch bei ihren absurdesten Wünschen nicht gewöhnt. Weil dieser erstens lebensgefährlich wäre und zweitens jeder Politiker und Bürokrat gerne Schmiergeld annimmt. Was Nadja so nicht unterschreibt: „Wir sind in Österreich. Hier sind die Leute ehrlich.“ Ein Trugschluss, wie sich bald herausstellt. Weil sich rasch zwei helfende Wiener an das Projekt hängen: Der schmierige Klaus („Nichts ist unmöglich, alles eine Frage des Geldes“: Georg Friedrich, noch ein Berlinale-Shooting-Star), der weiß, mit welchem Stadtrat man sich ordentlich betrinken muss, damit eine Baugenehmigung nur noch reine Formsache ist, und sein bester Freund, Anwalt Dr. Ferdinand Braunrichter (Max-Ophüls-Preisträger Simon Schwarz), über den man nicht zu Unrecht sagt: „Er kennt jedes Gesetz und weiß, was man dagegen tun kann.“

Die beiden versprechen Igor die Umsetzung seiner Pläne unter der selbstverständlichen Bedingung, dass dabei viel (Schwarz-) Geld in ihre eigenen Taschen fließt. Sie haben in ihrem Stammlokal Zum goldenen Schuss schon ihren Jagdkameraden Hans Zech (Joseph Lorenz) ins Visier genommen: der Stadtrat könnte sich mit den Oligarchenmillionen selbst ein Denkmal setzen mit der Sanierung – und Renaturierung – des mitten durch Wien fließenden Donaukanals. Dass dabei als Nebenprodukt auch die Schwedenbrücke bebaut werden kann, ist zwar eher unwahrscheinlich, aber wenn erst 'mal gebaut wird, dann wird sich schon etwas finden lassen. Vorerst reicht eine für 30.000 Euro über Nacht errichtete Potemkinsche Brücke, um Igor, der nun auch noch die österreichische Staatsbürgerschaft als Draufgabe einfordert, davon zu überzeugen, dass es eher heute als morgen losgeht auf der Russenbrücke...

Was das Gaunertrio nicht ahnt: Ihr Wirken ist nicht unbeobachtet geblieben. Nadja hat schon lange die Pappen dicke und ihre beste Freundin Vera (Daria Nosik) nun auch die Nase voll: Die vollbusige russische Blondine in Ganzkörper-Leopardenglitzer ist die Gattin von Klaus geworden, nachdem dieser sich im Internetportal Russian Dolls seine Traumgespielin ausgesucht hat. Jetzt hat Vera ihn in flagranti beim Fremdgehen erwischt und macht sich zurecht Sorgen um ihre luxuriöse Dachgeschosswohnung in der Inneren Stadt. Dritte im Bunde ist Nadjas Babysitterin Teresa, die schon viel zu lange brotlose antikapitalistische Kunst macht und sogleich Feuer und Flamme ist für die aus ihrer Sicht nur zu gerechte Umverteilung der widerrechtlich angeeigneten Oligarchen-Millionen. Schließlich habe schon Lenin die Umverteilung des Kapitals gefordert.

Und das ist ihr Plan: Mit Nadjas Insider-Wissen als Übersetzerin all‘ der schwindligen Deals der drei kriminellen Investoren, die insgeheim auch noch beabsichtigen, sich bei der inzwischen auf hundert Millionen Euro gestiegenen Investitionssumme gegenseitig über den Tisch zu ziehen, wollen sie dafür sorgen, dass wenigstens die drei Millionen Schmiergeld, die Klaus vorab von Igor in bar erhalten hat, möglichst elegant, also spurlos, bei ihnen selbst landen...

Geld stinkt nicht? Kaviar, scheinbar eine typisch austriakisch-schwarzhumorige Culture-Clash-Komödie der David-Schalko-Klasse (Braunschlag, zuletzt der sog. Wiener Landkrimi Höhenstraße), beweist binnen einhundert völlig abgefahrener Minuten das Gegenteil. Fehlt nur noch die olfaktorische Komponente zur alle Sinne des Publikums reizenden Ösi-Satire. Doch der Schein trügt. Die junge, in der sowjetischen Atom-Wissenschaftsstadt Obninsk geborene und aufgewachsene Absolventin der Moskauer Filmuniversität VGIK, Elena Tikhonova, die seit 2000 in Wien lebt und arbeitet, schreckt vor keinem Klischee zurück und kann noch schwärzer als Josef Hader, Paul Harather, Nikolaus Leytner oder Wolfgang Murnberger. Was sie 2013 mit ihrem Debüt, der aberwitzigen Geschichte der Elektronischen Musik in Russland, Elektro Moskva, bewiesen hat und nun in ihrem ersten Kinospielfilm bestätigt.

Elena Tikhonova: „Im Kern ist ‚Kaviar‘ ein Film über Migration und über die Überwindung der Einsamkeit, die sie mit sich bringt. Die Hauptfiguren von ‚Kaviar‘ sind Migrantinnen. Jedoch keine, die als Putzfrauen arbeiten, sondern aus der Gruppe, die sich einredet, an der Gesellschaft teilzuhaben, aber doch häufig wegen ihrer ‚Ost-Mentalität‘ belächelt wird. Vieles im Film ist von eigenen Beobachtungen inspiriert, die ich machte, seit ich vor 19 Jahren ohne ein Wort Deutsch zu können nach Österreich gekommen bin und mich per Trial & Error in meiner neuen Umgebung zurechtfinden musste. Sobald man in einem fremden Land lebt, beginnt man unweigerlich mit Landsleuten in Kontakt zu treten, die man in der Heimat möglicherweise nie getroffen hätte. Man zieht einander regelrecht magnetisch an und entwickelt eine Affinität zur ‚eigenen‘ Kultur, die man niemals für möglich gehalten hätte. So entstehen Freundschaften, die vieles Trennende überwinden – wie die der drei Frauen in ‚Kaviar.“

Hier wird russisch gesprochen mit deutschen Untertiteln, wenn etwa „die schnelle Natjuschka“ Margarita Breitkreiz mit ihrem Boss Igor alias Mikhail Evlanov spricht. Und Deutsch mit russischen Untertiteln, wenn die drei taffen Heldinnen ihren Plan aushecken, den korrupten russischen Oligarchen einige Milliönchen unter ihren Hintern wegzunehmen. Auch optisch ist „Kaviar“ anders: die den ganzen Film durchziehenden Animationen erinnern an Wladimir Tatlin und die Suprematisten genannten sowjetischen Avantgardekünstler der 1920er Jahre. Nach der Uraufführung am 17. Januar 2019 beim 40. Max Ophüls Festival Saarbrücken, wo der Film mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, ist Kaviar am 4. Juli 2019 bundesweit in unsere Kinos gekommen – hierzulande ins Casablanca im Bochumer Bermuda-Dreieck und ins Sweet Sixteen an der Immermannstraße 29 in der Dortmunder Nordstadt.

Freitag, 5. Juli 2019 | Autor: Pitt Herrmann