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Warten an der Linie: Margaret (Stéphanie Blanchoud) und ihre jüngere Halbschwester Marion (Elli Spagnolo).

Familie am Rande des Wahnsinns

Neu im Kino: Die Linie

Die Beziehung zwischen der 35-jährigen Margaret (Stéphanie Blanchoud) und ihrer alleinerziehenden Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi), einer ehemaligen, höchst erfolgreichen Konzertpianistin mit CD-Produktionen der Deutschen Grammophon, die nun nur noch Privatunterricht gibt, ist seit jeher von Konflikten geprägt.

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Als eine Auseinandersetzung eskaliert und Margaret einmal mehr nicht nur das Mobiliar der Wohnung zerlegt, sondern auch gegen ihre Mutter gewalttätig wird, wird sie von ihrem Stiefvater Serge (Eric Ruf) und den anderen Familienmitgliedern ebenso handgreiflich vor die Tür gesetzt.

Drei Monate Kontaktverbot

Christina, die nach dieser Gewaltexplosion auf einem Ohr taub ist, erwirkt den gerichtlichen Beschluss eines Kontaktverbotes gegen ihre aggressive Tochter, die dadurch mitten im Winter ihre Bleibe verliert: Drei Monate lang darf sich Margaret dem Elternhaus nicht mehr als einhundert Meter nähern. Nur unter Polizeiaufsicht darf sie benötigte Dinge aus ihren Sachen, die sich inzwischen in der Garage des Hauses stapeln, entnehmen.

Christina (Valeria Bruni Tedeschi, li.) und ihre älteste Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud) geraten immer wieder handgreiflich aneinander.

Doch das Urteil verstärkt bei Margaret, die in der Werkstatt von Eddy (Thierry Romanens) abblitzt, aber bei einem Fischer (Jean-François Stévenin) Arbeit gefunden hat, nur den Wunsch nach familiärer Nähe und so erscheint sie jeden Tag in Sichtweite des Hauses, um ihrer jüngsten Halbschwester, der Zwölfjährigen Marion (tolles Debüt: Elli Spagnolo), Musikunterricht zu geben. Sodass diese sich gezwungen sieht, um weiteren Ärger zu vermeiden, mit breitem Pinsel und reichlich blauer Farbe aus der virtuellen eine tatsächliche Grenzlinie zu ziehen.

In neue Beziehung gestürzt

Während die exaltierte Christina sich nach der Trennung von Serge, der die Spannung in der Familie nicht mehr ausgehalten hat, in eine neue Beziehung mit dem weitaus jüngeren Hervé (Dali Benssalah) stürzt und den Flügel, einst Mittelpunkt des Hauses, ins Abseits stellt, um ihn später zu verkaufen, wird die Linie zum Schauplatz der Begegnung ihrer drei Töchter.

Hier gibt Margaret der talentierten, gläubigen Christin Marion unter Gitarrenbegleitung regelmäßig zu verabredeter Zeit Gesangsunterricht im Vorfeld eines Konzertes des Kirchenchores, hier trifft sie sich auch mit der mittleren, hochschwangeren Schwester Louise (India Hair). Die dort bald auch ihre Zwillinge präsentieren wird. Tag für Tag, auch an Heiligabend, kehrt Margaret an diese scheinbar unüberwindliche Grenze zurück…

Scharfsinniger Blick für fragile Familienstrukturen

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier (Silberner Berlinale-Bär für „Winterdieb“) beweist mit „La Ligne“ erneut einen scharfsinnigen Blick für fragile Familienstrukturen und die menschliche Seele. Mit emotionaler Dichte, feinem Humor und kleinem Hoffnungsschimmer am offenen Ende erzählt sie von der Sehnsucht nach Geborgenheit und versammelt einen brillanten Cast in diesem Konflikt mit Mindestabstand - allen voran Stéphanie Blanchoud und Valeria Bruni Tedeschi als explosives Tochter-Mutter-Gespann.

Die Regisseurin über ihre Protagonistin, die sie einen einsamen weiblichen Cowboy nennt: „Margaret kämpft. Physisch. Sie kämpft wie ein Mann. Wie ein verwundetes Tier. Sie kämpft, weil sie nicht anders kann, weil ihr die Worte fehlen, weil ihr Körper sie überholt. Sie ist hypersensibel, es gibt keinen Filter zwischen ihr und der Außenwelt. Wenn sie sich in einer Situation wiederfindet, die sie berührt oder tief verletzt – so tief, dass sie keine Worte findet –, steigt dieses wilde Ding in ihr auf, wie ein Bündel Nerven, das explodiert.“

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In drei Kinos in der Region zu sehen

„Die Linie“ von Stéphanie Blanchoud und Antoine Jaccoud (Buch) sowie Ursula Meier (Buch und Regie), am 11. Februar 2022 Wettbewerb der 72. Berlinale 2022 uraufgeführt und vor dem Kinostart bei rund 20 Festivals gezeigt, erhielt drei Schweizer Filmpreise (Bestes Drehbuch, Beste Hauptdarstellerin: Stéphanie Blanchoud; Beste Schauspielerin in einer Nebenrolle: Elli Spagnolo) und den Golden Rooster Award (Beste Regie). Der gut einhundertminütige Film startet am Donnerstag, 18. Mai 2023 in unseren Kinos, zu sehen im Sweetsixteen Dortmund, in der Galerie Cinema Essen und im Bambi Düsseldorf.

| Autor: Pitt Herrmann