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Yvonne Forster und Monika Bujinski in „Wir, Kinder der Sonne“ in Bochum.

'Wir, Kinder der Sonne' im Rottstr5-Theater

Nach Kaltenkirchen statt nach Moskau

„Jetzt sollte man aber Tee trinken“: Panflöte und Akkordeon lehnen an Birkenstämmchen, der Samowar steht neben einer Matroschka-Puppe und einem Tastentelefon. Lampions und Fähnchen sorgen für Atmosphäre und wann gab es zuletzt einen Teppich auf dem harten Boden unter den Eisenbahnbögen, der die Tango-Schritte zweier elegant gekleideter Damen dämpft?

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„Wir sind die Kinder der Sonne, die Licht ins Dunkel der Zweifel bringen“: Alexej Peschkow (1866-1936), der sich 1892 das Pseudonym Maxim Gorki (Der Bittere) zulegte, bezieht sich in seinem Stück „Kinder der Sonne“ auf den Aufstand während der Cholera-Epidemie im gleichen Jahr an der unteren Wolga. Das war aber nur ein der Zensur geschuldetes Ablenkungsmanöver.

Drama im Kerker geschrieben

Denn geschrieben hat Gorki sein Drama Anfang 1905 im Kerker der Peter-und-Paul-Festung, wo er infolge der Russischen Revolution nach dem „Petersburger Blutsonntag“ von Ende Januar bis Ende Februar inhaftiert war: „Kinder der Sonne“, am 25. Oktober desselben Jahres im Petersburger Kommissarshewskaja-Theater uraufgeführt, thematisiert, zwischen den Zeilen gelesen, den moralischen Zusammenbruch der saturierten russischen Intelligenz.

Durch die Corona-Pandemie hat „Kinder der Sonne“ in den letzten Jahren eine Renaissance auf unseren Bühnen erlebt und die bisherigen Gorki-Hits wie „Nachtasyl”, „Sommergäste”, „Barbaren” und „Wassa Shelesnowa” in den Schatten gestellt. Ein knappes Jahr vor der höchst bemerkenswerten, da geradezu altmeisterlichen und jeden aktuellen Bezug vermeidenden Inszenierung der slowenischen Regisseurin Mateja Koležnik, die am 7. Oktober 2022 am Schauspielhaus Bochum Premiere feierte, setzte das Rottstr5-Theater ein Ausrufezeichen mit einer eigenen Fassung und unterstrich damit seine Bedeutung als bedeutendste Off-Bühne des Ruhrgebiets.

Auf drei Personen reduziert

Die am 13. November 2021 herausgebrachte Inszenierung Alexander Ritters, von ihm überraschend konventionell ausgestattet, reduziert das Figurenarsenal Gorkis erheblich auf nur drei Personen: Gastgeberin Jelena (Monika Bujinski), bei Gorki die frustrierte Gattin des (nun dem Rotstift zum Opfer gefallenen) Wissenschaftlers Pawel Protassow, hier eine zwar desillusionierte, aber standesgemäß über den Dingen stehende Akademikerin. Dann ihre jüngere, idealistische, aber auch empfindsame und von den Ereignissen draußen zunehmend dünnhäutigere Cousine Lisa (Yvonne Forster), bei Gorki hoffnungslos geliebt vom Tierarzt Boris.

Hella-Birgit Mascus („Callas“ am Prinz Regent Theater) als Olga in Alexander Ritters Gorki-Überschreibung „Wir, Kinder der Sonne“ an der Rottstraße.

Schließlich die Veterinärmedizinerin Olga (Rott5-Debütantin Hella-Birgit Mascus), welche hier bodenständige Vernunft offenbart und im Original gar nicht vorkommt. Sie verrät aber Züge des bei Gorki eher arroganten, elitären Malers Wagin, dem sich die unglückliche Jelena nähert.

Keine Angst vor der KI

Die von Alexander Ritter als Archetypen angelegten Frauen verhandeln die Utopie einer humanen Gesellschaft, die nicht nur soziale Ungleichheiten überwindet, sondern sich den Fake News und der Hetze populistischer Politiker, die den Staat aus politischen und die Ärzteschaft aus finanziellen Gründen für die Pandemie verantwortlich machen, entgegenstellen. Keine Angst vor der künstlichen Intelligenz, sondern nur vor der natürlichen Dummheit: Auf der Suche nach Antworten ist Ritter bei Texten der in Mülheim/Ruhr geborenen Spiegel-, Zeit- und SZ-Journalistin Carolin Emcke und der queeren britischen Rapperin und Lyrikerin Kae Tempest fündig geworden.

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Nach Moskau? Nein – nach Kaltenkirchen! Karten für die nächste rund 70-minütige Aufführung am Freitag, 26. April 2024, um 19.30 Uhr an der Rottstraße 5 am Rande des Bochumer Bermuda-Dreiecks unter rottstr.de oder Tel. 0163 – 761 50 71.

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  • Freitag, 26. April 2024, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann
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