
Hässlichkeit zerstört die Menschen
Mitreißende Doku 'Architecton'
Auf den Titel dieses in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen essayistischen Dokumentarfilms, klärt der in Berlin lebende russische Dokumentarist Viktor Kossakovsky im Presseheft auf, sei er nach der Lektüre von Tolstois Opus Magnum „Krieg und Frieden“ gekommen: Am Ende des 2000-seitigen Buches blickt die Hauptfigur zum Himmel und
sagt: „Großer Architecton der Natur, bitte hilf mir, aus diesem Labyrinth der Lügen herauszukommen.“ Mit Architecton ist hier der Architekt der Architekten gemeint.
Nach aktuellen Bildern eines durch russischen Beschuss in Trümmern liegenden Wohnblocks irgendwo in der Ukraine sehen wir einen Mann, es ist der italienische Architekt Michele De Lucchi, der im Tempelbezirk Baalbek im Libanon um einen Felsblock schreitet, den er immer wieder ehrfurchtsvoll berührt. Und sich schließlich in einer Bodenvertiefung meditativ an ihn lehnt. Der gigantische, ganz offenbar bearbeitete Stein gehört mit seinem Gewicht von eintausend Tonnen zu den größten von Menschen geschaffenen Megalithen, den kein Hightech-Kran unseres 21. Jahrhunderts zu bewegen in der Lage ist.
Unheilvolles Dräuen kündigt den gleich zu Beginn gesetzten visuellen Höhepunkt des am 19. Februar 2024 im Wettbewerb der 74. Berlinale uraufgeführten Films an, den man sich auf der größtmöglichen Leinwand des Kinos seiner Wahl ansehen sollte: eine gewaltiger Lawine aus Steinen und Geröll nach einer gezielten Sprengung in einem Steinbruch. Ben Bernhards Drohnen-Kamera fährt dicht an der Felswand entlang – und das Publikum wird beinahe erschlagen von diesem gesteuerten Murenabgang.

Alte Tempelanlagen im einstigen Zweistromland stehen neben Zeugnissen brutalistischer Beton-Architektur unserer Tage: es braucht keinen Voice-Over-Kommentar, die Bilder sprechen für sich. Und evozieren die Frage, was einmal von unserer gesichtslosen Architektur aus Beton, Stahl und Glas bleiben wird. Zumal schon heute Gebäude aus dem 3-D-Drucker entstehen. Was andererseits ein Hoffnungsschimmer ist für obdachlose Menschen nach dem 2023er Erdbeben in der Türkei oder dem verbrecherischen Angriffskrieg Putins auf die Ukraine.
Im Garten seiner Villa lässt Michele De Lucchi nicht nur zwei Mähroboter kreisen, sondern bei Regen und bald einsetzendem Schneefall von Arbeitern einen „Kreis des Lebens“ aus Steinen errichten. Ein Gegenstück zu den kunstlosen Wolkenkratzern, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestreitet. Wohl wissend, dass die Ressourcen der Welt begrenzt sind und ein Umdenken der Menschen erforderlich ist. Der Italiener kritisiert vor allem den Einsatz eines Werkstoffes: Die aus Beton gegossene Architektur ist aus seiner Sicht nicht nur hässlich und umweltverschmutzend, ihre Lebensdauer beträgt im Durchschnitt nicht mehr als 40 Jahre. Antike Ruinen in den abgelegensten Gebieten der Welt erinnern dagegen an eine Stabilität und Ästhetik des Lebens, die für De Lucchi verloren scheint.
Victor Kossakovsky im Presseheft: „Wir leben in der Zeit der Langweile. Wenn man sich umschaut, besteht alles nur aus flachen Rechtecken. Man muss nicht Architektur oder Schönheit studiert haben, um diese Rechtecke zu bauen. Wir akzeptieren diese Hässlichkeit, aber sie zerstört unsere Herzen, unsere Seelen. Jeden Morgen wache ich auf und sehe ein hässliches Gebäude vor mir. Wenn ich aufwache und ein schönes Gebäude sehe, dann bin ich glücklich.“
„Architecton“ ist ein intensiver Dokumentarfilm von geradezu hypnotischer Kraft über den Traum nachhaltiger Architektur und die Suche nach einem neuen Verständnis von Schönheit jenseits der heute üblichen, austauschbaren Betonarchitektur. Zum Kinostart am 3. Oktober 2024 wird er im Casablanca Bochum, im Filmstudio Glückauf in Essen sowie im Düsseldorfer Metropol gezeigt.