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Erkennt Julika (Paula Beer) in White (Albrecht Schuch) ihren Ehemann Anatol Stiller?

Max Frischs „Stiller“ im Kino

Hinterfragte Männlichkeit

„Ich bin nicht Stiller!“: Bei der Einreise in die Schweiz wird der US-Amerikaner James Larkin White (Albrecht Schuch) aus dem Zug heraus festgenommen. Der Vorwurf: Er sei der vor sieben Jahren verschwundene Bildhauer Anatol Stiller, der wegen seiner Verwicklung in eine dubiose politische Affäre gesucht wird. Stiller soll mit einem Agenten namens Smyrnow in Zürich eine kommunistische Spionage-Zelle aufgebaut haben. White bestreitet nicht nur die Vorwürfe, er beharrt auch darauf, nicht der gesuchte Stiller zu sein.

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Weshalb der Staatsanwalt Rolf Rehberg (Max Simonischek) Stillers Gattin Julika Stiller-Tschudy (Paula Beer), die ehemalige Prima Ballerina betreibt nun eine Ballettschule, bittet, zwecks Identifizierung nach Zürich zu kommen. Wo White sich unangenehmen Fragen des offenbar voreingenommenen Untersuchungsrichters (Ingo Ospelt) kaum erwehren kann und daher damit beginnt, Tagebuch zu schreiben – auch zur Selbstvergewisserung. Sein einziger Lichtblick ist das schon rührende Interesse seines Gefängniswärters Knobel (Marius Ahrendt), das er sich mit immer phantastischeren Geschichten aus Mexiko und den USA, in denen er sich mehrfach als Mörder outet, erhält.

Die Gewissheit schwindet

Julika (Paula Beer) wird von Staatsanwalt Rolf Rehberg (links: Max Simonischek) und Anwalt Bohnenblust (rechts: Stefan Kurt) ins Untersuchungsgefängnis geholt, um White als Anatol Stiller zu identifizieren.

„Hier in der Schweiz hat sich noch immer alles aufgeklärt“ beruhigt Whites Pflichtverteidiger Dr. Bohnenblust (Stefan Kurt) seinen Mandanten, den er mit einem Lokaltermin im noch existenten Künstleratelier zu einem Geständnis überreden will. Dabei kann Julika Stiller, die mehr als zehn Jahre alte Schwarzweiß-Fotos ihres Mannes (Sven Schelker) mitgebracht hat, nach der ersten, starke Emotionen auslösenden Begegnung („Hör auf mit diesem Spiel!“) nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob es sich bei dem Gefangenen um ihren Mann handelt. Zumal sie sich immer stärker an alte Zeiten erinnert, an ihren Besuch in seinem Atelier und nicht zuletzt an ihre erste Begegnung mit dem aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrten Stiller im Lungensanatorium.

Ich bin ein Anderer

„Wie soll man denn beweisen, dass man nicht ist?“ fragt White den Richter, der dem Wunsch Julikas entspricht, sich außerhalb des Justizapparates mit White zu treffen, um diesen näher kennen zu lernen und vielleicht doch noch als ihren Gatten identifizieren zu können. Denn von einer Narbe im Ohr bis hin zu Whites gesunden Zähnen (Stiller hatte nach einem Unfall Stiftzähne) bestehen nach wie vor Zweifel. Die vielleicht der im Hause Rehberg lebende Sturzenegger (Martin Vischer) beseitigen könnte oder sogar die Gattin des Staatsanwalts (Marie Leuenberger): Während Julika im Sanatorium um ihr Leben kämpfte, leistete sich das selbstüberhebliche Künstlergenie nach einem Faschingsball eine heftige Affäre mit der frisch verheirateten Sibylle, die sich dann aber gegen das daraus entstandene Kind entschied.

Keine Fragen mehr offen

Sibylle (Marie Leuenberger) bewundert Stillers (Albrecht Schuch) künstlerische Arbeit .

Am Ende ist die Smyrnow-Affäre vom Tisch – und mit der Zahngeschichte, einer simplen Verwechslung der Röntgenbilder, bleibt keine Frage mehr offen: White ist Stiller, und der zerstört analog zum Roman aus Wut über dieses unfreiwillige Outing alle seine Skulpturen. „Wir verzweifeln daran, wir selbst sein zu wollen“, resümiert Rolf Rehberg, „oder wir verzweifeln daran, nicht wir selbst sein zu wollen.“

Inszenierung für Kenner

Der Schweizer Regisseur Stefan Haupt, der gemeinsam mit Alex Buresch auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat den 1954 erschienenen, mehrfach preisgekrönte Roman „Stiller“ seines Landsmannes Max Frisch (1911-1991), der für den Architekten den Durchbruch als Romanschriftsteller („Homo Faber“, „Mein Name sei Gantenbein“) bedeutete, für Kenner der Vorlage inszeniert.

Alle anderen werden Probleme mit der permanenten Vermischung der Zeitebenen von Gegenwart, Rückblenden auf die heute wohl toxisch zu nennende Nicht-Ehe eines egozentrischen wie auf seine erfolgreiche Gattin eifersüchtigen Künstlers sowie die hochstaplerisch-abenteuerlichen Geschichten für den Gefängniswärter Knobel haben. Da ist es geradezu ein Segen, dass die für Frisch seinerzeit bedeutsame kritische Auseinandersetzung mit seinem Heimatland ebenso dem Rotstift zum Opfer gefallen ist wie das 50-seitige „Nachwort des Staatsanwalts“.

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Nebenbei: Eine Bühnenadaption von Reto Finger hatte in der Regie von Eric de Vroedt 2016 Premiere am Schauspielhaus Bochum. Die Dreharbeiten zum 100-minütigen Film fanden im November und Dezember 2023 in der Schweiz (Davos und Zürich) sowie in Deutschland (München und Umgebung) statt. Nach der Uraufführung am 1. Juli 2025 beim Filmfest München kommt „Stiller“ am 30. Oktober 2025 in die Kinos, bei uns zu sehen im Casablanca Bochum, im Filmstudio Glückauf Essen, in der Schauburg Dortmund sowie im Cinema Düsseldorf.

Mittwoch, 29. Oktober 2025 | Autor: Pitt Herrmann