
„Kinder der Sonne“ in Bochum
Großes Schauspielertheater
„Die Chemie überblickt alles, und während sie überall Harmonie entdeckt, forscht sie hartnäckig nach dem Ursprung des Lebens ... und sie wird ihn finden, wird ihn finden!”: Während draußen in der Stadt die Cholera wütet, hat sich Pawel Fjodorowitsch Protassow (Guy Clemens) in seinen häuslichen Elfenbeinturm zurückgezogen, um an offenbar grässlich stinkenden Tiegeln und Töpfen zu hantieren (das olfaktorische Erlebnis bleibt dem Publikum glücklicherweise erspart).
Diesen heimelig-runden Rückzugsort vor der harten Wirklichkeit draußen hat Raimund Orfeo Voigt als hyperrealistische, kunstvoll verwinkelte Tschechow-Bühne gestaltet, ein durch Scheinwerfer als Theaterkulisse gekennzeichneter Guckkasten. Ein optisches Ausrufezeichen in unseren postdramatischen Zeiten, erkauft mit starken Sichteinschränkungen auf den Plätzen seitlich der Mitte.

Der Chemiker Pawel ist besessen davon, mit aufwändigem technischem Einsatz am neuen Menschen zu basteln. Wofür der auf die Fähigkeiten des ständig betrunkenen, daheim seine Frau verprügelnden Schlossers Jegor (in der Maske kaum wiederzuerkennen: Michael Lippold) angewiesen ist zum Entsetzen aller anderen Bewohner und ihrer Gäste. Insbesondere aber des Kindermädchens Antonowna (großartig: Karin Moog), die sich nicht nur um Pawels aufsässige Schwester Lisa (nicht von dieser Welt: Anne Rietmeijer) kümmert, sondern als Haushälterin ein barsches Regiment führt.
In seinem Wahn entgeht Pawel völlig, dass sich seine von ihm vernachlässigte und darob frustrierte Gattin Jelena Nikolajwna (prominenter, TV-bekannter Gast an der Königsallee: Anna Blomeier) mit seinem Neffen, dem jungen Künstler Dmitri Sergejewitsch Wagin (genialische Anflüge: Victor IJdens) tröstet. Es scheint ihn auch nicht zu stören, dass der Hausbesitzer Nasar Awdejewitsch (Konstantin Bühler) immer mehr Möbel ausräumen lässt als Ausgleich für unterbliebene Mietzahlungen.
„Wir sind die Kinder der Sonne, die Licht ins Dunkel der Zweifel bringen“: Überhaupt nimmt Pawel, der ständig zwischen Labor und Arbeitszimmer hin und her hastet, von seiner Umgebung nichts wahr: Die hoffnungslose Liebe des Tierarztes Boris Nikolajewitsch Tschepurnoi (Dominik Dos-Reis) zu seiner Schwester Lisa entgeht ihm ebenso wie die offen bekundete, aber kaum weniger erfolgversprechende Zuneigung der reichen Witwe Melanija (Jele Brückner), Boris‘ Schwester, zu ihm selbst. Letztere ist dennoch bereit, zusammen mit dem kühl kalkulierenden Unternehmer Nasar in die industrielle Ausbeutung der biochemischen Erkenntnisse Pawels zu investieren. Am von der als Kassandra geschmähten Lisa vorausgeahnten Ende steht ein von Jegor angeführter aufgeheizter Mob vor der Tür, der Pawel für den Ausbruch der Cholera, an der sich die Ärzte nur bereichern wollen, verantwortlich macht…
Alexej Peschkow (1866-1936), der sich 1892 das Pseudonym Maxim Gorki (Der Bittere) zulegte, ist nach „Die Letzten“ (1989 Andrea Breth, Berliner Theatertreffen 1990), „Nachtasyl“ (1992 Niels-Peter Rudolph), „Kinder der Sonne“ (2001 Karin Henkel) und „Wassa Schelesnowa“ (2013 Jan Neumann) auf den Brettern des Schauspielhauses Bochum traditionell präsent. Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik setzt die Reihe großen Schaupielertheaters an der „Kö“ nun mit einer atmosphärisch dichten, jeden aktuellen Bezug etwa zur Corona-Pandemie vermeidenden, als geradezu altmeisterlich zu lobenden und entsprechend umjubelten neunzigminütigen Neuinszenierung der prosaischen, alltagssprachliche Fassung von Ulrike Zemme fort, Premiere war am 7. Oktober 2022 im Großen Haus.
Bekannt für ihre psychologisch genauen Arbeiten legt Mateja Koležnik, die seit 2012 im deutschsprachigen Raum inszeniert und 2018 mit Tschechows „Iwanow“ den österreichischen Theater-Oscar „Nestroy“ gewann, großen Wert auf gleichgewichtige Ensemblearbeit bis hin zu kleinen Nebenrollen, hervorgehoben seien hier die beiden Dienstmädchen Fima (Folkwang-Absolventin Amelie Willberg) und Luscha (Emily Lück als Gast vom Bochumer Rottstr5-Theater): aus einem Dorf stammend können sie weder lesen noch schreiben, nur Bibelverse aufsagen.
„Kinder der Sonne” steht wieder am 15. und 30. Oktober 2022 sowie am 5., 9., 12. und 17. November 2022 auf dem Spielplan, Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel 0234 – 33 33 55 55.
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- Samstag, 15. Oktober 2022
- Sonntag, 30. Oktober 2022
- Samstag, 5. November 2022
- Mittwoch, 9. November 2022
Weitere Termine
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- Samstag, 12. November 2022
- Donnerstag, 17. November 2022