
Modernes Öko-Märchen am Westfälischen Landestheater
Grimm mit Grips: Löhles „Stadtmusikanten“
Fake-Sound-Beginn: Zum angeblichen Spiel Mark Plewes auf der Akustik-Gitarre dröhnt jaulender E-Gitarren-Sound aus den Lautsprechern. Auch eine Fake-Story? Denn bei den „Bremer Stadtmusikanten“, die jetzt am Westfälischen Landestheater frenetisch, von einem begeisterten Premierenpublikum, gefeiert wurden, dass die sechs Darsteller gar nicht von der Castrop-Rauxeler Stadthallen-Bühne lassen wollte, soll nicht der Esel geschlachtet werden wie im bekannten Märchen aus dem Jahr 1819 sondern der Hahn im Suppentopf landen.
Wie bei den Brüdern Grimm machen sich vier so furchtlose wie sangesfreudige Tiere auf den Weg nach Bremen, Heimatstadt des musikalischen Leiters des WLT, Tankred Schleinschock, der nach knapp einer Stunde dann auch mit Werder-Shirt an die Rampe tritt. Der alte Esel (Mark Plewe) hat „Rücken“ und findet, dass er lange genug die schweren Säcke des Müllers (Vincent Bermel) getragen hat, wofür Letzterer naturgemäß kein Verständnis aufbringt. Unterlegt mit dem One-Hit-Wonder von Trio Rio zieht es ihn jedoch weder nach New York noch nach Rio und auch nicht nach Tokyo, sondern in die norddeutsche Hansestadt, wo er als Musiker sein Futter verdienen möchte: „Bremen ist bequem“.

Unterwegs trifft er einen alten Jagdhund (Anne Noack), der ein begnadeter Schlagzeuger und daher wohl nicht ganz von ungefähr schwerhörig ist. Auch die Katzendame (Luisa Cichosch) ist alt geworden, mag es lieber gemütlich statt hinter Mäusen herzujagen. Zumal sie auch längst nicht mehr so gut sieht. Allein den stimmgewaltigen Hahn (Chris Carsten Rohmann) drückt kein Zipperlein, dafür die Aussicht, demnächst im Suppentopf zu landen, umso mehr. Denn die Bäuerin (herrlich über den spitzen Stein: Thyra Uhde) stört sein lautes Kikeriki mächtig. „Was besseres als den Tod findest du überall“ weiß der Esel – und das kunterbunte Tier mit dem schönen Kopfputz schließt sich sogleich dem Trio an.
Furzender Wildpinkler im Wald? Das ist sicherlich nicht der Weihnachtsmann, der vor ihren Augen in einem recht grob zurechtgezimmerten Bretterverschlag verschwindet. Die sich als recht gemütliche Höhle eines arg kindlich-naiven Räuberquartetts entpuppt, mit dem die Tiere kurzen Prozess machen. Wenn der Hahn kräht am anderen Morgen, soll’s nach Bremen gehen. Doch es gibt, finden die Tiere, keinen schöneren Ort nirgends auf der Welt. Warum dann nicht hier bleiben? Familie und Freunde, zu denen bald auch die Räuber gehören, sind wichtiger als Geld…
Weihnachten 1812 brachten Jacob und Wilhelm Grimm ihre erste Sammlung von Kinder- und Hausmärchen heraus, der bis 1858 weitere folgten, welche noch heute Kinder und Erwachsene zugleich begeistern. Sie sammelten über 200 Märchen und Legenden, darunter auch „Die Bremer Stadtmusikanten“, die von Generation zu Generation weitererzählt worden waren. So erhielten sie die mündlich überlieferten Volkerzählungen als deutsches Kulturgut für die Ewigkeit. Was stets unterschlagen wird, wenn fälschlicherweise von den „Gebrüdern Grimm“ die Rede ist: Ferdinand Philipp Grimm (1788 – 1845) unterstützte seine Brüder Jacob und Wilhelm, mit denen er bis 1836 unter einem Dach in Göttingen wohnte, bei ihrer Sammlertätigkeit, bevor er sich als selbständiger Schriftsteller in Wolfenbüttel niederließ.
Der renommierte Dramatiker Philipp Löhle (u.a. „Genannt Gospodin“ am Schauspielhaus Bochum, zuletzt „Die Mitwisser“ am WLT) hat „Die Bremer Stadtmusikanten“ als musikalisches Familienstück für alle ab vier Jahren für unsere Gegenwart bearbeitet. Seine Fassung, welche die Grimmsche Vorlage zitiert, aber ohne Erzähler auskommt, wirft ein anderes, eher mitleidiges Licht auf das Räuber-Quartett aus Luisa Cichosch, Thyra Uhde, Chris Carsten Rohmann und Vincent Bermel: diese leiden unter dem gruppendynamischen Druck und werden selbst von Ängsten geplagt. In der Ausstattung von Anja Müller, ihre Bretter-Drehbühne erinnert an einen Abenteuerspielplatz – und die begleitenden (Groß-) Eltern im Publikum an die Baumhäuser ihrer Kinderzeit – hat Kristoffer Keudel dieses moderne Öko-Märchen am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel inszeniert, heftig umjubelte Premiere war am 24. Oktober 2020 in der Stadthalle Castrop-Rauxel.
Philipp Löhle, Hausautor am Staatstheater Nürnberg des früheren Dortmunder Opernchefs Daniel Herzog, hat ein optimistisches Plädoyer geschrieben für mehr Mitgefühl in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Und für Tiere, die in Sachen Menschlichkeit die Nase bzw. Schnauze vorn haben. Löhles Menagerie, uraufgeführt am 30. Oktober 2019 von den Westfälischen Kammerspielen Paderborn, glänzt durch lautmalerischen Sprachwitz und temporeiche Situationskomik.
Hinzu kommt am WLT noch die von Tankred Schleinschock einstudierten Songs von Thomas Esser für alle Beteiligten auf den Brettern – Tiere und Menschen. Sind letztlich doch die Räuber, die aus ihrer Behausung geworfen werden, auch nur arme Schweine. Die playbackunterstützt zu Gitarre, Nasenflöte, Kazoo-Membranophon und Shaker auch ihre gesanglichen Qualitäten unter Beweis stellen. Bis auf die Regieassistentin Anne Noack, der als Hund ein darstellerisches Kabinettstückchen gelingt, stehen sämtlich Neuzugänge in der ersten Neuproduktion des Kinder- und Jugendtheaters in der Spielzeit 2020/21 am WLT auf der Bühne: Mark Plewe, gebürtiger Hamburger des Jahrgangs 1987, hat in den letzten Jahren frei gearbeitet wie auch Thyra Uhde, 1990 in Eckernförde zur Welt gekommen und in Hamburg zur Schauspielerin und Clownin ausgebildet. Gleich ein Trio ist aus Köln nach Castrop-Rauxel gewechselt: Luisa Cichosch, 1995 in Karlsruhe geboren, Chris Carsten Rohmann, Dorstener des Jahrgangs 1994, und Vincent Bermel, 1987 in Neuwied auf die Welt gekommen. Für alle trotz Corona-Bedingungen, die transparenten Plastikmasken fielen überhaupt nicht auf, ein runder Einstand in der Europastadt.
Die weiteren Vorstellungen: am 15. Dezember 2020 und 3. Januar 2021 am Europaplatz in Castrop-Rauxel sowie am 29. Januar 2021 im Städt. Saalbau Witten, Näheres im Netz unter westfaelisches-landestheater.de.