
Theater für alle Sinne
„Geister“ in der Bochumer Zeche Eins
Wie wir sehen – sehen wir nichts. Die Zeche Eins an der Prinz-Regent-Straße im Bochumer Süden, wiederbelebte Nebenspielstätte des Schauspielhauses für experimentelles Theater, ist völlig in gelblich-fiebrigen Nebel gehüllt. Nur die kleinen grünen Notlicht-Kästen zu beiden Seiten der Zuschauertribüne geben räumliche Orientierung für eine rund einstündige Performance, in der sich vier Geister auf die Suche nach dem Unterdrückten, Ausgelöschten und Verschwundenen in unserer Welt begeben: die beiden Bochumer Schauspielerinnen Ann Göbel und Karin Moog, der Berliner Fotograf und Installationskünstler Max Gören sowie der queere Tänzer und Choreograph Tiran Normanson.
Während das Quartett, so stehts im Pressematerial, Totenwache hält und gleichzeitig, welch verquaste Sprache, das Am-Leben-Sein feiert, sind aus dem Off englischsprachige Texte zu hören, deren deutsche Übersetzung auf zwei seitlichen Bildschirmen unsinnigerweise vernebelt wird. Erst später, wenn die Buchstaben rot unterlegt sind, werden sie lesbar. Es geht um den Zustand zwischen Wachen und Schlafen, um Herzrasen, aber auch um Stille, die nicht das Gleiche ist wie Schweigen.

Allmählich wird auch die apokalyptische Landschaft sichtbar, welche die Kölner Szenen- und Kostümbildnerin Marilena Büld und der Schweizer Bildhauer Christopher Füllemann in die ehemalige Weißkaue der Zeche Prinz Regent modelliert haben. Bilder der flandrischen Schützengräben des Ersten Weltkriegs, die Sam Mendes in seinem jüngsten Kino-Epos „1917“ wieder ins kollektive Gedächtnis zurückgeholt hat, tauchen vor dem geistigen Auge des Zuschauers auf. Dann lodern plötzlich Flammen an einem Gestell auf: Sie erinnern an mittelalterliche Hexenverbrennungen, aber auch die Aktivitäten des rassistischen Ku Klux Klan in den USA.
Zusammen mit seinem Ensemble hat sich der Regisseur Florian Fischer, bereits im Hörstück „Unsichtbar“ mit vielfach unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung tätigen Menschen in der 24-Stunden-Pflege befasst, daran gemacht, alltägliche Dinge – auch aus der Vergangenheit - mit allen Sinnen wieder neu erfahrbar zu machen. Um die Erfahrung von Zeit etwa geht es bei der Rückschau auf die Anfänge der (Porträt-) Fotografie: Vier Minuten stillsitzen vor dem Kasten des Lichtbildners. Erzählzeit ist erzählte Zeit. Thema ist, mit vielen ganz persönlichen Erlebnissen der Darsteller gespickt, ganz generell das Leben, von der Geburt bis zum Tod. Nicht im großen Bogen narrativ, sondern rein assoziativ.
Da hat die gerade wieder gerichtlich verbotene „Werbung“ von Frauenärzten, die eine Schwangerschaftsunterbrechung durchführen, ebenso ihren Platz wie die Angst einer Schauspielerin, ihren Beruf, der ihr Berufung ist, nach der bevorstehenden Geburt ihres Kindes aufgeben zu müssen. Mutterschaft als Geschenk? Gleich noch eine Frage hinterher: Wie lange soll das Kind, wenn es denn auf die Welt gekommen ist, gestillt werden. Auch in der Öffentlichkeit oder doch besser nur daheim? Die Bandbreite ist enorm, von den Träumen junger Mädchen, einmal als Star ganz groß herauszukommen, bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für Aids-Patienten.
Das Quartett kriecht auf allen Vieren, wälzt sich am Boden als gelte es, feindlichen Kugeln auszuweichen, baut sich im nächsten Moment fahnenschwingend wie siegreiche Truppen auf dem Feldherrenhügel auf. Dazu die volle Dröhnung aus den Lautsprechern (Musik: Billy Bultheel). Aber auch der olfaktorische Sinn ist einbezogen: beim brennenden Gestell mischt sich Petroleumgeruch in den parfümierten Theaternebel. Schließlich schwebt in der Kriegsszene, in der übrigens auch die Frage gestellt wird, warum immer nur Mädchen Angst vor Jungen haben müssen, wo von verbranntem Körperfett und anderen menschlichen Ausdünstungen die Rede ist, ein Hauch von Fenchelduft über dem Schlachtfeld.
Aufführungen
- 26. Januar 2020, 19 Uhr (anschl. Publikumsgespräch)
- 30. Januar 2020, 19:30 Uhr (19 Uhr Einführung)
- 31. Januar 2020, 19:30 Uhr
- 4. Februar 2020, 19:30 Uhr (19 Uhr Einführung)
- 5. Februar 2020, 19:30 Uhr
- 7. Februar 2020, 19:30 Uhr
- 9. Februar 2020, 19 Uhr (zum letzten Mal, 19 Uhr Einführung)
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- Sonntag, 26. Januar 2020, um 19 Uhr